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Spiel der Simulation

■ Uraufführung eines Rockmusicals in Hannover: „Factory Blues“

Das hannoversche Staatsschauspiel hat zu einer Uraufführung geladen: Factory Blues von Thomas Ernst, einem Ensemblemitglied. Vor dem Eingang sind Absperrungen und Ordner wie bei einem richtigen Rockkonzert. Im Zuschauerraum geht die Simulation weiter: Karges, weißes Leinen kaschiert den Plüsch der Sitze. Von der Bühne wabert künstlicher Nebel, der in dem engen Zuschauerraum aber eher zu Hustenanfällen reizt, als die Stimmung anzuheizen. Die Szene zeigt hohe, weiße Fabrikhallenmauern, vor der Rückwand hat ein ganz ordentliches Schlagzeug (man zählt immerhin fünf Becken) Platz gefunden.

Drei Musiker im Blaumann machen sich an ihren Instrumenten zu schaffen, während das Publikum, je nach Erwartungshaltung, ganz unterschiedlich im Outfit (Jeans und Lederjacke versus traditionelle Theateruniformierung) seinen Platz sucht. Harry Prtisznsky (Oliver Stokowski), von seinen Freunden Pretty genannt und Chef von „Factory“, werkelt am Baß. Heinz Feldmann, rührendes und rührend dickes Muttersöhnchen (Jan-Gregor Kremp), läßt die Finger probeweise über sein Keyboard gleiten, und der grazile Czerny (Wolfgang Edelmayer) sitzt etwas klein und verloren hinter seinen Drums und wischt lustlos über die Becken.

Die drei Artisten sind ratlos. Ihnen fehlt der vierte Mann, die E-Gitarre. Die präsentiert sich sogleich auf eine Suchmeldung der Band hin in Gestalt von Halil Mustafa (Thomas Limpinsel), in Hamburg geborener Türke.

Und damit folgt die erste und vielleicht auch schon schönste Szene eines Stückes, das sich ansonsten so spannend ansieht, wie sich die Gebrauchsanweisung für das Einziehen von Gitarrensaiten liest. Halil stößt bei seiner Bewerbung auf die massiven Vorurteile, wie sie eben zwischen Jugendlichen bestimmter Kreise in Deutschland und überall auf der Welt üblich sind. „Hey, Mann, wir sind doch hier keine Bauchtanzgruppe“, ist noch der gelindeste Kommentar. Aber als Halil die ersten Riffs von Honky Tonk Woman schmerzhaft schön durch den Raum peitscht, ist jeder Rassen- und Nationalitätenstreit vergessen. Es gibt nur noch die eine große Klassengesellschaft, die den Könner vom Nicht-Könner trennt. Die große Internationale der Profis. Halil Mustafa ist aufgenommen.

Was folgt, ist neben einigen hübschen Einlagen die mickerige Story vom Aufstieg der vier Arbeiterjungen zu Ruhm und Erfolg. Dabei werden sie, um zu reüssieren — leider, leider —, ihre harte, aber ehrliche Rock'n'Roller-Seele an die verlogene, watteweiche Disco-Glitzerwelle verkaufen. Aus der Gruppe „Factory“ wird „Harmony“. In einem sentimentalen Finale geben sie — nun arriviert — ein Konzert an ihrer alten Arbeitsstätte, in der Gummifabrik, und werfen da, back to the roots, den silbrigen Showdress ab, um noch einmal im durchschwitzten T-Shirt so richtig schmutzigen, „widerständigen“ Rock zu machen.

Nur schnippt inzwischen auch bei dieser Mucke jede RentnerIn begeistert mit. Das ist hübsch gemacht, hübsch inszeniert. Da wird mit unheimlich viel Einsatz gemuckt. Aber immer bewundert man als Zuschauer die Schauspieler, die man als Othello und Ferdinand, als Marquis von Keith und Lodovico, als Wladimir und Estragon kennt, vor allem dafür, daß sie das auch können. So toll singen, Schlagzeug, Keyboard und Gitarre spielen können. Und ihre Chuck-Berry-Version von Lucille kann sich ja auch wirklich hören lassen.

Doch ein Abend kann sehr lang sein, und das ganze Unternehmen krankt daran, daß das kein richtiges Stück (oder besser ein ziemlich dürftiges) ist und auch kein richtiges Rock-Konzert, sondern eben nur die Simulation eines solchen (zwei Drittel der Zeit wird immerhin gemuckt). Stellte man die Jungs auf die Bühne des hannoverschen Capitols, so würden sie, soviel ist sicher, von einem sachverständigen Publikum denn doch gnadenlos ausgebuht werden.

Wir erfahren, daß die vier Protagonisten, der Regisseur Matthias Fontheim und der Autor Thomas Ernst (es ist sein erstes Stück), alle mal als Schüler und Studenten Musik gemacht haben. Nun haben sie sich die Erfüllung ihres Traums vom Rockstar als staatlich subventionierte Ersatzbefriedigung gegönnt, und dafür ist es allemal glimpflich abgegangen.

Thomas Ernst hat seinen Ensemblefreunden die Rollen auf den Leib geschrieben, und man spürt die unbändige Spielfreude (im doppelten Sinne) der Viererbande. Die Jungens haben wirklich ihren Spaß auf der Bühne, so daß man ganz gerührt davon ist und gar nichts Schlechtes darüber schreiben mag. Und diese Spielfreude teilt sich auch dem Publikum mit. Factory Blues hat alle Chancen, zum Renner der Saison zu werden.

Es gibt einen Punkt, wo sich das Stück mit der Musik trifft. Im Stück werden die Personen zu Rollen, die Menschen zu Karikaturen und Klischees verkürzt: der blutsaugende Fabrikbesitzer, die karrieregeile Musikjournalistin, der servile Vorarbeiter, die keifende Ehefrau, der smarte Manager, das blöde Blondchen, der exzentrische Megastar, der bescheuerte Fernsehmoderator, na ja, und so fort. Dazu gehört auch, daß die muckenden Schauspieler die Posen der Musikheroen so gekonnt imitieren und inszenieren, daß das Ganze doch wieder unecht wirkt. Die Simulation ist so vollkommen, daß sie auch nicht mehr den Hauch von Authentizität hat. Michael Stoeber

Factory Blues. Ein Stück Rock'n'Roll. Von Thomas Ernst. Regie: Matthias Fontheim. Bühne: Hugo Gretler. Mit Harry Prtisznsky, Oliver Stokowski, Halil Mustafa, Thomas Limpinsel. Ballhof Hannover. Nächste Aufführungen: 15., 23. und 27. März.

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