: Weder Fisch noch Fleisch
■ Die NATO verhindert ein neues europäisches Sicherheitssystem
Weder Fisch noch Fleisch Die Nato verhindert ein neues europäisches Sicherheitssystem
Wer in der Politik einen Sinn für Symbole hat, der konnte gestern einen Triumph feiern: Der ehemalige Warschauer Pakt, mittlerweile zu 20 Einzelstaaten mutiert, trat als Bittsteller am Sitz der Nato in Brüssel an. Zur Tagung des Nato-Kooperationsrates waren erstmals auch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die elf GUS-Länder, geladen.
Nun ist Dialog ja an und für sich immer zu begrüßen. Angesichts der Probleme hat das Treffen in Brüssel allerdings eher den Charakter, Streicheleinheiten auszuteilen, statt wirksame Hilfe anzubieten. Das beginnt bei den real existierenden militärischen Altlasten. Die ehemals riesige — jedenfalls in einem quantitativen Sinn — Rote Armee sitzt auf einem Haufen atomarer und konventioneller Waffen, mit denen die neu entstandenen Einzelstaaten nichts anzufangen wissen oder die sie nicht wirklich kontrollieren können. Zur Kompensation bieten Genscher und Baker ein Auffangzentrum für sowjetische Atomwissenschaftler an, von dem man jetzt schon weiß, daß es für hochrangige Atomiker nicht sonderlich attraktiv ist.
Wichtiger als die Aufräumarbeiten aber ist die Frage nach der Perspektive. In den letzten vierzig Jahren des kalten Krieges entstanden im Westen eine Reihe supranationaler Organisationen, die sich alle in Abgrenzung zum Osten definierten. Dazu gehört in erster Linie die Nato, aber in gewissem Sinne auch die EG. Während die EG sich mit der Frage herumschlägt, wo eigentlich Europa liegt, und sich bis zur Beantwortung mit Krediten und Assoziierungsverträgen behelfen kann, ist man in der Nato entweder Mitglied oder nicht. Das bringt die Militärorganisation in ein doppeltes Dilemma: Der Forderung nach Aufnahme diverser Staaten des Ostens will sie nicht nachkommen, weil sie für einen solchen übergreifenden Zweck nicht gemacht ist, aber Platz machen für ein neues Sicherheitssystem in Europa will die Nato auch nicht.
Deshalb bleibt der Status quo bestehen in einer Situation, die dringend eine Revision benötigte. Ungarn, die CSFR und Polen, die baltischen Staaten und andere suchen nach einem Dachverband, der ihnen Schutz in den bevorstehenden Konflikten bietet und notfalls auch in der Lage ist, Lösungen in Nationalitätenkonflikten zu erzwingen. Dazu ist weder die Nato noch die EG noch die WEU willens oder in der Lage. Eine Organisation wäre das vielleicht: die KSZE. Umfaßt sie doch die gesamten europäischen Staaten plus USA und Kanada. Die Mitgliedschaft ist freiwillig, und die Charta der KSZE bietet genügend Anschauungsmaterial für die Durchsetzung von Minderheitenrechten. Die KSZE ist keine Organisation, die zu militärischen Optionen mißbraucht werden könnte, sondern ein Rahmen für Konfliktlösungen nach innen. Noch ist sie allerdings weit davon entfernt, beispielsweise im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt tatsächlich eingreifen zu können, dazu fehlen ihr alle Sanktionsmöglichkeiten.
Im Moment stehen sich die vorhandenen supranationalen Organisationen eher im Weg, als daß sie positiv etwas durchsetzen könnten. Um die KSZE zu einem wirksamen Instrument machen zu können, muß die Nato aufgelöst werden. Der sogenannte Nato-Kooperationsrat zeigt nur, daß mit den Instrumenten des kalten Krieges die neuen Konflikte nicht gelöst werden können. Jürgen Gottschlich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen