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Leichte Delikte nicht verfolgen

■ Juristen diskutierten Ausländerfeindlichkeit der Justiz

Gelten für inhaftierte Ausländer in Bremen nur Rechte zweiter Klasse? Ein dickes Fragezeichen hatten die Bremer Strafverteidiger hinter das Thema ihrer Podiumsdiskussion gesetzt. Gleichzeitig hatten sie aber auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitiert, das vor kurzem der Bremer Justiz bescheinigt hatte: Sie habe zu lange ermittelt, habe einen Ausländer zu lange (über zwölf Monate) in Untersuchungshaft sitzen lassen und damit dessen Grundrechte eindeutig verletzt.

Richter, Jugendrichter und Staatsanwälte hatten sich von der „Initiative Bremer Strafverteidiger“ am Dienstag abend ebenso in die Villa Ichon locken lassen wie Jurastudenten, Gerichtshelfer und Ausländerinitiativen. Gemeinsam mit Rednern aus den Institutionen versuchten sie eine Bestandsaufnahme.

„Das allgemeine Klima schwappt auf die Gerichte über“, meinte der Rechtsanwalt Wolfgang Müller-Siburg. Im Kampf gegen den Drogenhandel werde das bisherige Maß außer acht gelassen. Wenn dann auch noch die Ausländerschaft anstelle der persönlichen Verhältnisse zum Haftgrund werde, dann „rächt sich der Fluch der bösen Tat“ (Müller-Siburg) und die Haftfälle nehmen zu. Konsequenz: Arbeitsüberlastung - bei Kripo und Staatsanwaltschaft, bis hin zum Personal in der Vollzugsanstalt.

Auch sein Kollege Stephan Barton sah den Hauptgrund des Dilemmas in der Schere aus steigender Kriminalität und fehlenden Ermittlungskapazitäten, bescheinigte jedoch der Staatsanwaltschaft: sie sei nicht ausländerfeindlicher als Strafverteidiger. Dennoch sah Barton auch strukturelle Probleme: „Die Strafprozeßordnung behandelt Verschiedenes gleich.“ Entgegensteuern könne man dem nur mit strikter Rechtsstaatlichkeit. Und nicht etwa, indem kriminalpolitisches Kalkül Entscheidungen beeinflusse.

Henning Maul-Backer, Staatsanwalt und zur Zeit zum Justizsenator abgeordnet, hofft zur Beseitigung offensichtlicher Mankos auf den neuen Geschäftsverteilungsplan. Spätestens ab Mai sollen zwei Staatsanwälte ins „BTM- Dezernat“ umverteilt, die Arbeitsbelastung dort reduziert werden. Eine Hoffnung, die viele nur sarkastisch kommentierten: Mehr Polizei verhaftet mehr Kleinkriminelle verursacht mehr Ermittlungs- und Gerichtsverfahren und überfüllte Knäste usw. „Vielleicht sollte im Bereich kleiner und mittlerer Kriminalität die Verfolgung eingestellt werden, um sich auf andere, wichtigere Aufgaben zu konzentrieren“, schlug Rainer Oellerich (Grüne) aus dem Publikum vor, und Müller-Siburg unterstützte die Überlegung.

Den zahlreichen Spitzfindigkeiten der Juristen, die den Abend bestimmten, hielt die Jugendgerichtshelferin Sybille Vollmer Erfahrungen aus ihrer Praxis entgegen: Selbst wenn ein kurdischer Jugendlicher nur einmal Heroin in den Fingern hatte, würden ihm bereits „schädliche Neigungen“ unterstellt. Bei Ausländern bemühe sich kaum einer, genauer hinzugucken oder gar eine persönliche Beurteilung abzufragen, wie sie bei deutschen Jugendlichen von der Gerichtshilfe erwartet würde. Und während für deutsche Jugendliche ein ganzes Netz wirkungsvoller Alternativen zur Haft entwickelt wurden, ist ein entsprechendes Angebot für Ausländer längst überfällig.

Hartmut Krieg aus der Justizbehörde versprach, daß sich da noch in der ersten Hälfte 1992 etwas tun werde: Nur die Bezahlung müsse zwischen Justiz- und Sozialbehörde noch geklärt werden.

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