Vom Nachttisch geräumt: Avantgarde der frühen Jahre

Als er 1988 in Berlin war, betrachtete Nanni Balestrini staunend die Berliner, die sich ganz als Metropolenbewohner sahen und erklärte ihnen mit leiser Stimme: „Berlin ist wie ein Kurort. Alles ganz leise, ganz ohne Hektik.“ Er kannte sich aus. Mailand und Rom waren die Städte, in denen er angefangen hatte. Als er 1979 bis 1984 Italien verließ, weil er keine Lust hatte, wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ erst einmal auf Jahre in ein Untersuchungsgefängnis zu gehen, lebte er in Paris. Die Metropolen und ihre Stadtindianer — dieses Thema hat den Autor nie in Ruhe gelassen. Freunde hat er sich damit kaum gemacht. Sein hochartifizieller Umgang mit authentischem und dabei so brisantem Material hat viele seiner ästhetischen Freunde so verschreckt wie seine politischen.

Sein berühmtestes Buch Wir wollen alles handelt vom Kampf der Fiat-Arbeiter. Aber ganz ohne den gerade in Italien so geliebten Sozialschmalz. Sein Buch zum Fall Feltrinelli, L'Editore, ist auf deutsch leider noch immer nicht erschienen.

Jetzt gibt es einen kleinen Band, der einen Überblick über Balestrinis Arbeiten bietet. Von Gedichten aus dem Jahr 1966 bis zur ersten Szene des Feltrinelli-Romans aus dem Jahr 1989. Dazwischen Texte wie das ironisch-leise Gedicht „kleines lob auf das publikum der poesie“ oder die Konfrontationen verschiedener Sprachspiele — zum Beispiel Flugblatt und Heftchenprosa — in „La violenza illustrata“.

Auch ganz und gar kryptische Botschaften an verlorengegangene Freunde und Bekannte finden sich in dem Band. Das hervorragende Nachwort von Peter O. Chotjewitz berichtet nicht nur von Balestrinis Verbindungsversuchen von ästhetischer und politischer Avantgarde, sondern es erläutert sie auch durch die anschauliche Beschreibung der europäischen Neo-Avantgarden der frühen Sechziger. Nach der Lektüre der wenigen Seiten dieses Nachworts wünsche ich mir einen Verlag, der Chotjewitz den Auftrag gibt, ein großes Buch über diesen inzwischen historisch gewordenen Ausbruchsversuch zu schreiben. Balestrini würde darin eine wichtige Rolle spielen.

Hanni Balestrini: Alles auf einmal. Literarisches Colloquium Berlin/ Berliner Künstlerprogramm des DAAD, 133 Seiten, 20DM