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Der Umgang mit den Stasi-Akten

Sieht man einmal von den politischen Flüchtlingen ab, so befinden sich vermutlich unter denjenigen westlichen Bundesbürgern, die momentan den politischen und publizistischen Knüppel des Stasi-Verdachts schwingen nur relativ wenige, die durch das DDR-System direkt oder indirekt zu Schaden gekommen sind. Im Gegenteil, vielleicht wird sich in ruhigeren Zeiten erweisen, daß es gerade das Vorhandensein des „Gegenbilds DDR“ war, das die Bundesrepublik positiv mitgeformt hat. Kurzum: Es bestünde von westlicher Seite eigentlich Veranlassung die Aufarbeitung der DDR-Geschichte durch die ehemaligen DDR-Bürger gelassen, still und dankbar zu begleiten.

Was statt dessen jedoch geschieht, ist das genaue Gegenteil: Die Vergangenheitsbewältigung wird an den ehemaligen „Brüdern und Schwestern“ aus dem Osten — insbesondere durch eine total einseitige Reduktion auf die zum Wahrheitsbeweis stillisierte Stasi-Hinterlassenschaft — unbarmherzig exekutiert.

Diese neue Lust an der Bewältigung der fremden Vergangenheit steht in so auffälligem Gegensatz zu dem mehr als vierzig Jahre lang bewiesenem Mut zur eigenen Vergangenheitsbewältigung, daß nur ein sozialpsychologischer Schelm böses dabei denken mag. Allerdings bietet sich die Geschichte der DDR auch geradezu an, Vergangenheit ein für allemal zu bewältigen. Zum Teil mag dies (wenn man es historisch betrachtet) an der „Harmlosigkeit“ der DDR-Hinterlassenschaft liegen: Die Millionen Stasi-Akten müssen schließlich (und natürlich auch von der ostdeutschen Bevölkerung) nicht so vehement verdrängt werden, wie die Millionen Tote des Zweiten Weltkriegs. Für die „gelernten“ Bundesrepublikaner aber ist durch die deutsche Vereinigung und den Fundus der Stasi eine einzigartige Perspektive eröffnet worden. Nun steht es fest: Es gab nur eine moralisch vertretbare Haltung gegenüber dem stalinistischen System der DDR und das war der antikommunistische Widerstandskampf der Bundesbürger. Ganz gleich wie immer er auch praktiziert worden sein mag, in der Form von Verhandlungen mit der DDR-Regierung um Milliarden-Kredite oder im westdeutschen Fernsehsessel. Das Leben in der Bundesrepublik wird damit nachträglich zur Widerstandshaltung: 60 Millionen dürften sich damit in einem neuen Licht betrachten: Keine Verdrängung der NS- Vergangenheit und ihrer sozialpsychologischen Folgen ist mehr notwendig, denn nun ist ja gewissermaßen kollektiv bewiesen worden, daß das zwölfjährige Fehlen des Rückgrads ein Zufall, allenfalls ein „Betriebsunfall“ war. Die Vergangenheit ist endgültig „entsorgt“.

Doch geht es bei dieser moralischen Exekution nicht allein um Vergangenheit, es geht zumindest in gleichem Maße um Zukunft. So zeigt die Kampagne gegen die Evangelische Kirche in gewissen Hinsicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der schon fast vergessenen Abrechnung der westdeutschen Feuilletons mit der DDR-Literatur. Denn der eigentliche Vorwurf — so scheint mir — ist nicht der, mit dem SED-Staat zusammengearbeitet zu haben bzw. ein Teil des Systems gewesen zu sein. Dies ist, wie der Umgang mit den „Blockparteien“ oder noch eklatanter (aber bisher bezeichnenderweise völlig unbeachtet), die Integration der NVA in die Bundeswehr beweißt, eine eher „läßliche Sünde“. Nicht zu verzeihen ist jedoch, wenn die bewußte Mitarbeit in der DDR-Gesellschaft mit der Absicht geschah, eine humanere Gesellschaft, einen anderen, besseren, demokratischen Sozialismus herbeiführen zu wollen.

Dies jedoch, war nicht nur das Ziel der „politisch unzuverlässigen“ Minderheiten in der ehemaligen DDR, es ist Ausdruck einer spezifischen deutschen Geschichtstradition, die die Göttinger Zeitgeschichtlerin Helga Grebing einmal als „die weiße Linie“ der deutschen Geschichte bezeichnet hat. Sie zeichnet dabei zwei Linien historischer Kontinuität in Deutschland nach. Eine der Linien ist schwarz und führt — im großen Werk der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt eindrucksvoll dargelegt — vom Scheitern der Aufklärung in Deutschland nach Auschwitz. Die andere ist weiß. Sie beginnt ebenfalls bei der Aufklärung und läuft weiter zu Jakobinertum hierzulande, zum liberalen und auch zum sozialistischen Geist, der die Niederlage in der Revolution von 1848 überlebt, zur Revolution von 1918, die nicht zufällig hereinbricht, zu den besseren Kräften in der Weimarer Republik und schließlich zum Widerstand gegen Hitler.

Wie wir nicht nur von Horkheimer und Adorno lernen können ist eine solche „Zwei-Linien-Kontinuität“ grob undialektisch. Dennoch erinnert sie uns daran, daß es auch nach der Wiedervereinigung noch andere Konstellationen gibt, als 60 Millionen westliche moralische Sieger einerseits und 16 Millionen moralische Verlierer andererseits.

Dieses Umstandes scheinen sich „die wirklichen Gewinner“ der Vereingung, insbesondere die westdeutschen Eliten, die — wie der renomierte Berliner Historiker Arnulf Baring kürzlich schrieb — „nach vierzig Jahren Atempause“ endlich wieder „so etwas Elementares wie Macht wiederentdecken“ müssen, durchaus bewußt zu sein. Und vielleicht liegt gerade hierin die spezifische Absicht ihrer Vergangenheitsbewältigung. So betrachtet sind die gegenwärtigen Anwürfe gegen die Evangelische Kirche in der ehemaligen DDR nicht nur stellvertretend gegen alle „Aufrechten“ im Osten gerichtet. Sie sind gleichzeitig ein Angriff auf ein Gesellschaftsmuster, das von der total unzeitgemäßen Vorstellung ausgeht, daß es nicht der Eigennutz des Individuums sei, der die Gesellschaft zusammenhält. Die Stasi-Akten und die Art und Weise ihrer „Aufarbeitung“ wären in diesem Sinne ein famoses Vehikel um — zumindest mittelfristig — die Zukunft zu „entsorgen“, die Gefahr nämlich, daß mit der deutschen Einheit, an einem neuen „Nullpunkt“, ein solidarisches Gesellschaftsmodell mehrheitsfähig wird. Walter Grode, Hannover

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