Mit dem Radl gen Süden

Immer mehr Radprofis verdingen sich in Spanien und Italien und verstärken die Dominanz der südeuropäischen Pedaleure/ Tour-de-France-Sieger Miguel Induráin führt bei Paris-Nizza  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) — Was bei den Fußballern schon längst selbstverständlich ist, hat jetzt auch den Radsport erfaßt: die Nord-Süd-Emigration. Mit den alten Hochburgen des edlen Speichensports — Belgien, Holland, Frankreich — ging es in den letzten Jahren mächtig bergab, Italiener und Spanier erwiesen sich zumeist als die kraftvollsten Kletterer, verwegensten Abfahrer, uhrwerkmäßigsten Zeitfahrer und waren auch bei den Sprints häufig die berühmte Reifenbreite vorn. Der Spanier Melchor Mauri gewann die „Vuelta a Espana“, der Italiener Franco Chioccioli den Giro d'Italia, der Spanier Miguel Induráin die Tour de France, der Italiener Gianni Bugno wurde Weltmeister und sein Landsmann Maurizio Fondriest holte sich den Weltcup.

Für die alte Radsportnation Niederlande blieb nur der zweifelhafte Trost, mit der Vergiftungsaffäre um Erik Breukinks PDM-Team die dicksten Schlagzeilen der Tour '91 geliefert zu haben, und die zu tausenden angereisten niederländischen Radsportenthusiasten mußten selbst auf ihrem ureigenen „Berg der Holländer“, dem Aufstieg nach L'Alpe d‘Huez, zerknirscht zusehen, wie Bugno und Induráin ihren Kletterexperten Rooks und Theunisse leicht und locker davonstrampelten.

Frankreich präsentierte zwar mit Luc Leblanc, der eigentlich nur als Wasserträger von Laurent Fignon vorgesehen war, den Aufsteiger der Tour, doch ansonsten waren die Errungenschaften der Franzosen eher bescheiden. Grund der französischen Misere ist nach Meinung von José Miguel Echávarri, dem Leiter des spanischen Banestoteams, nichts anderes als die Tour de France selbst. In Frankreich zähle nur diese Rundfahrt, alles andere sei unwichtig, sowohl für Zuschauer als auch für die Medien und damit die Sponsoren. Während in Spanien sogar die „Burgos-Rundfahrt“ im Fernsehen komme, würden in Frankreich außer der Tour nur zwei oder drei andere Rennen übertragen. „Sie haben das beste Rennen der Welt geschaffen und bezahlen den Preis dafür“, meint Echávarri. „Die Tour absorbiert alles.“

Wo Erfolge sind, da ist auch Begeisterung, und so strömen in Spanien und Italien die Zuschauerinnen und Zuschauer in Massen, und die Sponsoren geben sich die Klinken in die Hand. Die Teams haben genug Mittel, sich die Radsportcrème ins Land zu holen, und noch mehr Spitzenfahrer werden die Saison 1992 in südeuropäischen Trikots bestreiten. Der Belgier Johan Bruyneel und der Franzose Laurent Jalabert heuerten bei ONCE an, der Ire Sean Kelly wechselte von den PDM-Giftmischern zu Lotus, sein alter Weggefährte Stephen Roche soll bei Carrera dafür sorgen, daß Claudio Chiappucci nicht mehr so allein ist, und der Schweizer Tony Rominger verstärkt das spanische Clasteam.

Den größten Fischzug veranstaltete jedoch die Squadra des Gianni Bugno. Gatorade verpflichtete nicht nur den Belgier Dirk de Wolf sowie den Spanier Peio Ruiz Cabestany, sondern sorgte auch mit der Einverleibung des zweimaligen Tour de France-Gewinners Laurent Fignon für den spektakulärsten Transfer des Radsportjahres. Echávarri ist allerdings keineswegs sicher, ob Bugno nicht ein Bärendienst erwiesen wurde. Es sei die Frage, ob Fignon sich damit zufriedengebe, nur der zweite Mann im Team zu sein: „Er ist intelligent und stolz. Es könnte sein, daß Fignon mehr von Bugno profitiert als Bugno von Fignon.“

Dem Banestochef kann das nur recht sein, denn es steht außer Frage, daß die Saison 1992 auf einen Zweikampf zwischen seiner Mannschaft und Gatorade hinauslaufen wird. Die Spanier gehen erstaunlicherweise auch dieses Jahr mit ihrem Spitzenduo Miguel Induráin/Pedro Delgado an den Start. Die beiden Stars scheinen sich trotz des Aufstiegs von Induráin weiterhin bestens zu verstehen und haben die großen Rundfahrten säuberlich unter sich aufgeteilt. Delgado soll zum drittenmal die Spanienrundfahrt (27. April bis 17. Mai) gewinnen und damit alleiniger Rekordhalter werden, Induráin will als erster Spanier überhaupt den Giro d'Italia (24. Mai bis 14. Juni) für sich entscheiden, ein Unterfangen, bei dem einst selbst der legendäre „Adler von Toledo“, Federico Bahamontes, scheiterte. Die Höhepunkte des Jahres sind jedoch für die Spanier wie für Bugno die Tour (4. bis 26. Juli) und die Straßenweltmeisterschaft (6. September).

„In der nächsten Tour de France wird Delgado mit den gleichen Chancen wie ich an den Start gehen. Der Verlauf des Rennens muß dann entscheiden, wessen Karten die besseren sind“, beschreibt Induráin die Banestotaktik, die mit der vom letzten Jahr identisch ist. Der wortkarge Radästhet vergißt aber nicht, auf den Dritten im Bunde hinzuweisen: Jean- Francois Bernard. Dieser war einst der designierte Nachfolger von Bernard Hinault, wurde jedoch mit den Vorschußlorbeeren nicht fertig. Erst in Spanien fand er wieder zu alter Form.

Da Induráin die Kälte und somit die Frühjahrs-Prüfungen haßt, sollte Bernard der Banestokapitän für das Acht-Etappen-Rennen Paris-Nizza sein, das am Sonntag mit einem Einzelzeitfahren auf den Col d'Eze zu Ende geht und bei dem sich Cracks wie Fignon, LeMond, Mottet, Leblanc, Chioccioli, Rominger oder Gölz langsam für größere Aufgaben einrollen. Nach dem Mannschaftszeitfahren vom Mittwoch, das vom Rolf-Gölz-Team Ariostea gewonnen wurde, lag Bernard an zweiter Position — vier Sekunden hinter einem guten Bekannten: Miguel Induráin.

Paris-Nizza, 4. Etappe, Mannschaftszeitfahren in St. Etienne (26,5 km): 1. Ariostea (Italien) 32:39,25 Minuten; 2. Banesto (Spanien) 4 Sekunden zurück; 3. RMO (Frankreich) 9; Gesamtklassement: 1. Miguel Induráin (Spanien) 9:15:50 Stunden; 2. Jean-Franois Bernard (Frankreich) 4 Sekunden zurück; 3. Rolf Gölz (Bad Schussenried) 8; 4. Thierry Marie (Frankreich) 14; 5. Adriano Baffi (Italien) 16; 6. Stefan Joho (Schweiz) 17; 7. Christophe Manin (Frankreich) 18; 8. Charly Mottet (Frankreich) 18; 9. Hans Kindberg (Schweden) 20; 10. Bruno Cenghialta (Italien) 21