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Wahrlich, wir lebten in finsteren Zeiten...

■ Die Arbeitsgruppe für die Erforschung des Exilalltags zur Zeit der deutschen Sezessionskriege an der preußischen Akademie (Exsez) wird demnächst einen weiteren Briefband veröffentlichen, aus dem wir mit Genehmigung des Herausgebers zwei ebenso abstoßende wie für die Epoche signifikante Beispiele veröffentlichen. Die Briefe sind undatiert, es fällt aber nicht schwer, sie dem Ende des ersten Unterabschnitts der „Zeit der Wirren“ zuzuordnen.

Mein lieber Neffe,

Ich weiß nicht, ob dieser Brief Dich je erreichen wird, ob Du Dich nach dem Fall von Bamberg noch in den Trümmern versteckt hältst oder es Dir gelungen ist, aus unserem lieben, jetzt so grausam verstümmelten Franken zu fliehen. Du kannst Dir denken, was wir durchmachten, ehe wir schließlich in einem Vorort von Paris Zuflucht fanden. Suresne, wo wir jetzt wohnen, ist eine der 24 häßlichsten Städte der Banlieue und in keiner Weise mit Prixenstadt vergleichbar, unserer gemeinsamen Heimat. Als wir, nur die Kleider am Leib, vor vier Monaten hier eintrafen, hat sich das fränkisch-katholische Solidaritätskomitee sofort unserer angenommen. Im Dom von Notre Dame hielt Kardinal Lustiger ein feierliches Hochamt, die Kollekte reichte hin, um einigen von uns einen neuen Start zu ermöglichen. Jetzt könntest Du neben den zahllosen Merguez-Buden der Araber und Afrikaner auch die ersten katholisch- fränkischen Bratwurststände bewundern, perfekt in Fachwerkimitation errichtet.

In Paris selbst halten wir lockeren Kontakt mit Freunden aus den Departements Bas-Rhin, Rhin-Palatinat, Moselle-Treves und Sarre. Als neugebackene Franzosen leiden sie ein wenig am Symptom der Überidentifikation. Sie lieben es, in der blauweißroten Weste zu posieren, dem Erkennungszeichen des französischen Außenministers, der soviel für die rasche Eingliederung ihrer Territorien in die Grande Nation getan hat. Wahrhaftig, das Schicksal hat es gut mit den Rhein und den Moselländern gemeint! Nach dem schmählichen Scheitern der von der protestantisch-neobolschewistischen Bundeswehr geplanten Invasion haben sie entschlossen dem zerfallenden Deutschland Adieu gesagt und sich der Traditionen der Cis-rhenanischen Republik und ihres verehrten Konrad Adenauer erinnert, dessen französische Neigungen nach dem Ersten Weltkrieg ja schon damals von protestantisch-zentralistischen Kräften mit dem Bannfluch des Separatismus belegt worden waren. Wie gut taten die Rheinländer daran, sich der verrotteten Zone des „Ruhrgebiets“ zu entledigen, diesem Subventionssumpf, beherrscht von Sozialisten, entchristianisiert und nur von niedriger, materieller Genußsucht beherrscht. Historisch waren diese Gebiete Westfalens zwar locker dem Kölner Erzbistum verbunden, aber man muß sich nur der Absurditäten des Sprachgebrauchs dort erinnerern, dieser langgedehnten Vokale oder des ständigen, sinnlosen Gebrauchs des Füllworts „woll“, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß es sich hier um vollständig unterschiedliche Kulturen handelt. So wie auch nur ein Narr auf den Gedanken kommern könnte, das Fränkische, das wir Katholiken in Würzburg oder Bamberg sprechen, sei mehr als nur oberflächlich mit dem Idiom verwandt, in dem die Nürnberger Protestanten, diese Sklaven des preußischen Chauvinismus, sich anreden.

Im Pariser Albertus-Magnus- Haus, dem Kulturinstitut der neuen Departements, das in dem Räumen des alten Goethe-Instituts untergebracht ist, können wir die Fernsehprogramme aller Nachfolgestaaten der „BRD“ empfangen. Wir hören die aufmunternden Nachrichten aus dem Freistaat Bayern, dem wir uns so nahe fühlen und der uns dennoch so wenig helfen konnte. Ab und zu schalten wir um auf den Süddeutschen Rundfunk, nur um den Kopf zu schütteln über die Naivität von Leuten, die nach wie vor glauben, Protestanten und Katholiken, Schwaben und Badener könnten miteinander auskommen. Diesem schäbigen Händler-Völkergemisch ist der Mercedesstern näher als ihre jeweilige nationale Identität — kein Wunder, ist ihr Staat doch ein Kunstprodukt, nach 1945 unter Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts sowohl den Badenern als auch den verschiedenen württembergischen Staaten aufgezwungen. Aber sie täuschen sich, wenn sie glauben, durch Neutralität den preußisch-protestantisch-neobolschewistischen Expansionismus besänftigen zu können. In Untertürkheim und Karlsruhe-Durlach wird es bald ein böses Erwachen geben!

Nur mit Mühe bezwingen wir uns, den Bildschirm nicht zu zertrümmern, wenn irgendjemand aus Versehen die preußisch-protestantischen Sender einschaltet. Wie können diese Schlächter, die unsere Städte bombardieren und unsere Kirchen in Schutt und Asche legen, es wagen, Wörter wie Demokratie und Zivilisation in den Mund zu nehmen. Hätten wir doch in jenem fatalen Jahr 1989 die Zeichen der Zeit richtig gedeutet und in der „Vereinigung“ das gesehen, was sie tatsächlich war: die Hegemonie des preußisch-protestantischen Kasernensozialismus. Erst wurde uns Berlin, dieser parasitäre Wasserkopf, als Hauptstadt aufgezwungen. Dann, als wir uns gegen die immer drückenderen Steuern und Abgaben wandten, wurde uns der Bundeszwang angedroht. Kaum hatte die bayrische Staatsregierung bekanntgegeben, sie sähe die Gründungsakte der Bundesrepublik als hinfällig an, wurde von Berlin aus die demagogische Formel lanciert: Alle Preußen haben das Recht, in einem Staat zu leben. Die fränkischen Besitztümer Preußens wurden ebenso eingefordert wie die Territorien der ehemals freien Reichsstädte und der geistlichen Fürstentümer, die nach der Säkularisation 1815 zu Unrecht an Bayern gefallen seien. Wie konnten wir nur einen Moment lang daran zweifeln, daß die Einwohner der „neuen Bundesländer“, diese autoritär fixierten Untertanen, sich auf das erste Kommando hin gegen uns in Bewegung setzen würden?

Du erinnerst Dich, welche Rolle der unglückselige Kanzler Björn Engholm damals gespielt hat. Als Holsteiner der preußisch-protestantischen Seite zur Loyalität verpflichtet, führte er — ein König ohne Land — mit seiner Propaganda vom Fortbestehen der Bundesrepublik zu lange die Staatsmänner der KSZE in die Irre. Mag er jetzt in Kopenhagen seiner hedonistischen Natur frönen!

Lieber Neffe, verzeihe einem alten, ins Exil verschlagenen Studienrat die Jeremiaden. Unser Elend ist Dir weit gegenwärtiger als mir. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, von Dir zu hören.

Dein Onkel Christian

Lieber Onkel,

Der heiligen Bernadette sei Dank, Du lebst! Ich muß gestehen, daß ich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, noch irgendein Familienmitglied jemals wiederzusehen. Nun habe ich soviel zu berichten, daß ich gar nicht weiß, womit ich anfangen soll.

Deinem Brief, der mich auf abenteuerlichem Wege erreichte, entnehme ich, daß Du über das Schicksal meiner Eltern und Geschwister nichts weißt. Es ist zum Verzweifeln. Kurz nach den ersten Bombardements der Bundeswehr auf unser geliebtes Prixenstadt verabschiedete ich mich von der Familie, um mich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen. Doch was konnten wir schon tun? Eine Handvoll Polizisten und Freiwilliger gegen die bis an die Zähne bewaffnete bolschewistische Bundeswehr — das war aussichtslos. In einer waghalsigen Aktion durchbrachen wir die feindlichen Linien mit sechs Wasserwerfern, die einzigen gepanzerten Fahrzeuge, die wir zur Verfügung hatten. Drei haben es geschafft, in einem saß ich. Die übrigen wurden entweder abgeschossen oder von den Protestanten gestellt, ich weiß es nicht. Ich hoffe, daß Ratmüller noch lebt (Du erinnerst Dich, der Hauptwachtmeister, mit dem Du zur Schule gingst), er war auch dabei.

Hinter der Front wurden wir von bayrischen Kameraden zunächst nach München geschleust. Ich stimme Dir nicht zu, wenn Du schreibst, daß sie nicht mehr für uns hätten tun können. Sie haben uns zwar verpflegt, den militärischen Kampf gegen die Preußen unterstützen diese saturierten Herren aber in keinster Weise. Den Bayern geht es nur um Bayern, unser Franken ist ihnen egal. Ich habe in München eine Zeitlang im Büro der KFA gearbeitet, der Katholisch-Fränkischen-Allianz. Natürlich versorgten wir von dort aus den Widerstand in der Heimat mit Informationen, Geld und mit Waffen. Als die neue Regierung in Berlin damit drohte, gezielte „chirurgische“ militärische Aktionen in München durchzuführen, um die „Terrornester“ zu beseitigen, rückte uns der bayrische Verfassungsschutz auf den Hals. Sie setzten uns ziemlich unter Druck und forderten, daß wir uns auf humanitäre Hilfsaktionen beschränken sollten. Wir lehnten das natürlich ab. Wenige Tage später entdeckten wir in unserem Computer ein Virusprogramm, innerhalb von 24 Stunden waren fast alle verschlüsselten Adressen und Informationen zerstört. Wir wissen nicht, ob die Preußen oder die Bayern dahinterstecken. Jedenfalls setzte uns der Freistaat ein Ultimatum. Wir mußten Bayern innerhalb von 48 Stunden verlassen.

Ich machte mich zusammen mit zwei Brüdern, die aus dem Eichsfeld stammen, in Richtung Frankreich auf. Wir hatten eine Diskette gerettet, auf der sich südwestfranzösische Kontaktadressen befanden. Nun bin ich in Loudres, dem Wallfahrtsort an der spanischen Grenze nahe des Baskenlandes. Seit einem halben Jahr arbeite ich hier als Sanitäter. Tagsüber schiebe ich die Alten und Kranken auf Rollbetten durch die Stadt zur heiligen Grotte, besorge für sie heiliges Wasser in Bernadette-Plastikkanistern, kaufe im katholischen Supermarkt Ansichtskarten oder Bildbände für sie ein. Abends verdiene ich noch ein bißchen Geld in einer Werkstatt. Wir rüsten zur Zeit alle Rollbetten um, auf denen die kranken Pilger sich durch die Stadt schieben lassen. Über jedes Rollbett wird ein Sonnenschutz installiert, wegen der UV-Strahlung, die ist hier ziemlich stark in der Gegend.

Ich weiß nicht, ob der hier praktizierte Devotionalienhandel Dir gefallen würde — Du hattest ja schon immer eine kleine Schwäche für Marienstatuen — mir geht das manchmal auf die Nerven. Immerhin sind die meisten Menschen, die hierher kommen, auf unserer Seite. Die KFA durfte ein kleines Büro eröffnen, der Bischof toleriert unsere Arbeit, wir bekommen von den Besuchern viele Spenden. Geld brauchen wir ganz dringend für weitere Aktionen. Demnächst werde ich in Paris sein — warum, darf ich Dir nicht sagen — dann werde ich Dich natürlich besuchen.

Hier in Lourdes sind viele aus Franken und aus dem Cloppenburger Land. Selbst Leute aus Prixenstadt habe ich getroffen: Barbara Vogel zum Beispiel, sie arbeitet als Sekretärin bei der KFA. Stell Dir vor: Ihr Bruder, Harald — er ging mit mir aufs Gymnasium und studierte in den Neunziger Jahren in Berlin —, ist ein Überläufer! Barbara spricht nicht gern darüber. Ein Eichsfelder, der mit ihr eng befreundet ist, berichtete mir, Harald sei konvertiert und arbeite beim Preußisch-Protestantischen Sender als Redakteur. Solche Karriereschweine werden sich noch wundern. Wir sind zwar angeschlagen, doch unsere Verbindungen reichen noch immer bis in diese Subventionsruine an der Spree!

Je länger dieser Krieg dauert, desto mehr glaube ich, daß wir nur auf unsere eigene Kraft setzen können. Der Papst schließt uns in sein Gebet ein, jedenfalls hat er das gesagt, als er vor drei Monaten nach Lourdes pilgerte. Gebete! Besser wäre es, dieser Italiener würde uns ein paar Ausbilder von Opus Dei schicken. Die würden gerne kommen, sie dürfen aber nicht. So kooperieren wir hier mit den spanischen Basken, mit den französischen ist eh nicht viel los. Wir sind mit ihnen nicht gerade befreundet, die mögen keine Ausländer, schon gar keine Deutschen. Aber sie verstehen, was man uns angetan hat, weil sie es selbst erlebt haben. Die Guardia Civil hat im letzten Monat bei einer Razzia in San Sebastian zehn Basken und einen von uns geschnappt. Nach drei Tagen wurde er nach Berlin ausgeliefert. Das sind mir schöne Katholiken in Madrid!

Lieber Onkel, du schreibst mir, das katholisch-fränkische Solidaritätskommitee hätte Euch geholfen. Diese Brüder sitzen auch in Lourdes. Wir von der KFA halten uns von ihnen fern, dasselbe rate ich Dir. Wir haben sichere Informationen darüber, das sich in ihren Reihen viele Spione der Preußen befinden. Dieser rein karitativ orientierte Haufen trifft keinerlei Sicherheitsvorkehrungen. Ein Rosenkranz oder eine Kruzifixkette reicht denen als Vertrauensbeweis völlig aus, wenn sie neue Mitarbeiter suchen. Hier in Lourdes versuchen sie, uns bei anderen Katholiken aus Franken madig zu machen. Sie diffamieren uns als Abenteurer, und die Organisationsspitze hat nichts besseres zu tun, als sich in Berlin bei der Regierung einzuschmeicheln, weil sie als offizielle Verhandlungspartner anerkannt werden wollen. Vor kurzem gab es in einer Bar hier eine Prügelei zwischen uns und den Leuten vom KFS. Einer von ihnen hatte uns als verantwortungslose Terroristen beschimpft. Diese Revisionisten! Als ob wir verantwortlich wären für die schrecklichen Massaker im autonomen Münsterland, die die Bundestruppen angerichtet haben. Die Franzosen haben dagesessen und zugeschaut, während wir uns am Boden wälzten. Selbst gutwillige Katholiken sind hier manchmal nicht mehr in der Lage, die komplexe Situation in der ehemaligen Bundesrepublik zu begreifen. Tatsächlich ist das ja auch ein bißchen kompliziert. Ich sage denen immer, die Okkupierung Frankens sei von hugenottischen Familien gesteuert worden, die in Berlin, wie wir wissen, wieder großen Einfluß haben. Insofern ist der Aufmarsch gegen Franken auch eine Rache der Hugenotten an der Vertreibung aus Frankreich, wenn Du verstehst, was ich meine. Das Blöde ist nur, daß viele Franzosen gar nicht mehr wissen, wer die Hugenotten waren.

Ich würde mich übrigens sehr freuen, wenn wir uns bald sehen. Nach Paris breche ich in etwa fünf Wochen auf. Vielleicht wäre es besser, wenn Du mit Deiner Familie hier nach Lourdes kommen würdest. Die Devotionalienhändler suchen immer nach Aushilfskräften, weil seit dem Krieg immer mehr Pilger hierherkommen. Tante Annelie, ich hoffe, es geht ihr gut, könnte Platzanweiserin im katholischen Kino werden. Die zeigen zwar immer nur denselben Film über die Wundergeschichte von Bernadette, aber es wäre hier in den Bergen doch viel schöner als in dieser Trabantenstadt bei Paris, in der ihr jetzt haust. Einen fränkischen Bratwurststand gibt es noch nicht in Lourdes. Das wäre eine gute Idee, erstens leben hier viele Franken, und die Pilger sind immer hungrig. Nur freitags müßtet ihr Euch was anderes überlegen, denn seit einigen Monaten ist der Verkauf von Fleischgerichten in Lourdes an diesem Tag in Restaurants verboten. Das ist natürlich bigott, weil die Priester und Nonnen in ihren Wohnheimen - in einem bin ich auch untergekommen - natürlich auch freitags essen, was sie wollen. Da passieren auch noch ganz andere Sachen, die der Papst nicht tolerieren würde. Das berichte ich Dir, wenn wir uns treffen. Es grüßt Dich herzlich Dein

Neffe Claus

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