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Die Front National gleitet ins gemachte Bett

Die rechtsextreme französische Partei war den Konservativen jahrelang gut genug für die politische Zusammenarbeit/ Jetzt gilt Le Pen als Schreckgespenst und die übrigen Parteizentralen gehen auf Distanz/ Wählerpotential von 30 Prozent?  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Le Pen auf dem Weg zur Macht? Der Gedanke wird in Frankreich inzwischen ernst genommen. Der Parteichef der Front National (FN) ist vom Außenseiter zum gefürchteten Gegner avanciert. Premierministerin Cresson malt ihn als Teufel an die Wand. Sowohl die Sozialisten als auch Neogaullisten und Liberalkonservative definieren sich als Bollwerk gegen die FN. Derart angefochten herrscht Le Pen im Mittelpunkt der französischen Politik.

Was ist los in Frankreich, daß die rechtsextreme Partei solches Gewicht erlangen konnte? Wenige Tage vor den Wahlen macht jetzt jeder jeden dafür verantwortlich: Konservative beschuldigen Präsident Mitterrand, er habe die FN hochkommen lassen, damit sie die klassische Rechte spalte. Die Sozialisten werfen den Konservativen vor, durch ihre Bündnisse mit der FN hätten sie die rechtsextreme Partei enttabuisiert und wählbar gemacht. Die Kommunisten machen alle übrigen Parteien für die Zunahme der sozialen Ungerechtigkeiten verantwortlich, die den Nährboden der FN stellen — drei Millionen Menschen sind in Frankreich arbeitslos.

Sie alle haben Recht. Tatsächlich fällt der Aufstieg der FN in die Regierungszeit der Sozialisten. Nach ihrer Gründung 1972 hatte die Partei über zehn Jahre lang vor sich hin vegetiert. 1981 bekam Le Pen nicht mal die 500 Unterschriften zusammen, die nötig sind, um als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten; bei den Parlamentswahlen 1981 erzielte seine Partei nur 0,4 Prozent. Im selben Jahr traten die Sozialisten (PS) unter Mitterrand mit dem Slogan an: „Das Leben verändern.“ Ihr Wahlerfolg bündelte riesige Hoffnungen, doch ihre Politik unterschied sich nicht wesentlich von der ihrer Vorgänger. Heute sind viele ehemalige PS-Wähler maßlos enttäuscht, viele werden am Sonntag zu Hause bleiben — den Le-Pen-Stimmen geben sie durch ihre Enthaltungen zusätzliches Gewicht.

Schuld der Konservativen ist es, daß die FN bagatellisiert wurde. Bei einer Nachwahl 1983 in Dreux schlossen sich RPR, UDF und FN im zweiten Wahlgang zu einer Liste zusammen, um die Linke zu schlagen. Die Parteizentralen in Paris hatten dieses erste Bündnis abgesegnet, die Rechten siegten mit Abstand. Nach den letzten Regionalwahlen vor sechs Jahren sicherte die FN der bürgerlichen Rechten in sechs Regionen die Präsidentschaft. Im Gegenzug erhielt sie Posten in den Regionalräten und stellte fünf Vizepräsidenten. Wer heimliche Sympathien hegte für rechtsextreme Thesen, braucht diese seither nicht mehr zu verbergen. Die Hälfte der FN-Wähler stammt aus dem Lager von RPR und UDF.

Die wirtschaftliche, soziale und politische Krise des Landes trägt weiter zum Erfolg der Randpartei bei. Ihre — wirkliche und angenommene — Stärke spiegelt die Schwäche der etablierten Parteien. Geschickt nutzt die FN das politische Vakuum und bestimmt die Themen: Jeder dritte Franzose hält heute Einwanderung und Unsicherheit für die vorrangigen Probleme des Landes. Alle anderen Parteien sind dem Sog gefolgt und haben sich bis in den Wortschatz auf das Terrain der Rechtsextremen begeben. RPR- Chef Chirac, UDF-Chef Giscard, Präsident Mitterrand, Ex-Premier Rocard, Preministerin Cresson — sie ereiferten sich mit Formeln wie „Überdosis“, „Invasion“, „die Schwelle der Toleranz ist erreicht“, „wir können das Elend der Welt nicht aufnehmen“ oder schlugen „Charterflüge“ zum Abschieben vor. Kein Spitzenpolitiker traut sich noch, die Einwanderung als Chance für Frankreich zu bezeichnen.

Le Pen reibt sich die Hände, weiß er doch, daß „die Wähler das Original der Kopie vorziehen“. Skrupellos macht er die Einwanderer zu Sündenböcken. In den „50 Maßnahmen, um das Problem der Immigration zu regeln“ fordert seine Partei „Vorrang für Franzosen“ bei der Anstellung und bei der Vergabe von Sozialwohnungen. Sie verlangt einen Stopp der Sozialleistungen für Nicht- Franzosen und getrennte Sozialversicherungen. Die Staatsbürgerschaft soll nicht mehr nach dem Territorialrecht (das seit dem 16. Jahrhundert gilt und es in Frankreich geboreren Ausländern einfach macht, Franzose zu werden) geregelt werden, sondern nach der Blutsverwandschaft (wie in Deutschland).

Selbst in entlegenen Dörfern plakatiert die FN: „Wir kommen, sie ziehen ab“ — und den Wählern verheißt diese Milchmädchenrechnung: Wenn die Ausländer erst weg sind, bleibt uns mehr Arbeit, mehr Geld, mehr Wohnraum. Bei dem FN-Bürgermeister Charles de Chambrun im Camargue-Städtchen Saint Giles wurden jetzt Karteien gefunden, in denen er die Daten seiner Gemeinde schon mal sauber nach Franzosen und Maghrebinern unterteilt hat. Den Datenschützern, die ihm auf die Schliche kamen, warf der Mann „Gestapo-Methoden“ vor.

Die FN bietet als einzige Partei heute noch eine Utopie an, die sich um das französische Schlachtroß „nationale Identität“ rankt. Die Strategie funktioniert: Der FN ist „die Union aller Protestierenden gelungen, der Traditionalisten und katholischen Integristen, Nostalgiker des französischen Algeriens, Neonazis, Neopoujadisten (nach dem populistischen französischen Nachkriegspolitiker Poujade d. Red.), Antisemiten, Nationalisten und kleinen Leute, die verängstigt sind durch die sozioökonomischen Umwälzungen, die zunehmende Kriminalität, die Gewalttätigkeit der städtischen Zivilisation“, schreibt der Historiker Michel Winock. Sie ist ein Sammelbecken für enttäuschte Individuen. Le Pen, der den „moralischen Verfall“ der Etablierten anprangert, ist ihnen Hoffnungsträger und Saubermann.

Zum Testfall für ihre Stärke hat die Front National bei den Regionalwahlen die Region Provence-Alpes- Côtes-d'Azur auserkoren, die sich schon bei früheren Wahlen als Bastion des „Lepenismus“ erwiesen hatte (als Präsidentschaftskandidat hatte Le Pen 1988 in Nizza 26 Prozent der Stimmen erhalten und damit besser als Mitterrand und Chirac abgeschnitten). Dort, wo der Erfolg sicher ist, stellen sich die Parteigrößen nun selbst zur Wahl: Der Bretone Jean-Marie Le Pen tritt nicht in seiner Heimat an, die der FN eher abgeneigt ist, sondern im südfranzösischen Département Alpes-Maritimes, sein Propagandachef Bruno Mégret ist Listenführer im Département Bouches du Rhône.

Sollte Le Pen Regionalpräsident werden, wolle die Nationale Front „den Franzosen beweisen, daß sie fähig ist, morgen unser Land zu regieren“, erklärte Mégret. Daraus wird wohl nichts werden, denn die Pariser Parteizentralen von UDF und RPR haben dieses Mal vorgeschrieben, keine Bündnisse mit der FN einzugehen. Auch wenn sich einzelne Politiker wie der UDF-Mann Roland Blum „ganz persönlich“ für Abkommen mit der FN aussprechen, müssen die Parteien ein Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen zu ihrem Versprechen stehen, wollen sie nicht jegliche Glaubwürdigkeit verspielen.

Daher visiert die FN jetzt offenbar ein greifbareres Ziel an: Falls ihre Liste in Nizza vorne liegen wird, könnte sie vorgezogene Gemeindewahlen erzwingen, um den Bürgermeistersessel der fünftgrößten Stadt Frankreichs zu ergattern. Le Pen selbst oder Spitzenkandidat Jacques Peyrat sind dafür im Gespräch. Bei einer kürzlichen Nachwahl in Nizza konnte Peyrat nur durch die Allianz aller übrigen Parteien am Sieg gehindert werden.

Die Zersplitterung der Parteien läßt befürchten, daß es bei den Regionalwahlen fast nirgends klare Mehrheiten geben wird — vorausgesetzt, die Rechte hält Wort und verzichtet auf die Unterstützung der Rechtsextremen. Der PS-Politiker Gérard Fuchs schlug jetzt eine landesweite Front zur Isolierung der FN vor: Linke und Rechte sollten einen Pakt schließen, wonach stets die Partei den Regionalpräsidenten stellen soll, die die relative Mehrheit erzielt hat. „Dieses Abkommen würde zeigen, daß die Front National nicht eine Partei ist wie die anderen.“ Der Vorschlag verhallte ungehört.

Über die Strategie der Partei gibt ein „Leitfaden des Aktivisten“ von 1991 Aufschluß. Unter dem Punkt, „Vereinigungen, Infiltration“ heißt es da: „Man gleitet in ein gemachtes Bett. Vorzuziehen sind politische Vereinigungen, aber auch Sportgruppen, die zunächst politisch völlig neutral sind.“ Tatendurstige FN- Mitglieder werden aufgefordert, Gewerkschaftsgruppen zu gründen. Dabei sollen sie sich keinesfalls „als nationalistische Aktivisten zu erkennen geben.“ Kommt es zu Schlägereien mit der Polizei, sollen sich die Parteimitglieder selbst verletzen. „In jedem Fall reicht Klage ein: Sollten sie es auch tun, heben sich die Klagen gegenseitig auf. Wenn sie allein klagen, werdet ihr verurteilt.“

Die Schläge der Demokraten gegen die FN landeten bisher weitgehend im Wasser. Wenn ihre Wahlkampfveranstaltungen verboten werden, wenn die protestierenden Gegner auf der Straße zahlreicher sind als die Zuhörer im Saal — der FN ist es recht, denn so kann sie sich als Opfer von „Regierungsmachenschaften“ darstellen. Hingegen ist niemand in Sicht, der die Gründe für Le Pens Erfolg beseitigen könnte. Die FN werde erst dann an Bedeutung verlieren, wenn „die Leute, die sie unterstützen, ein anderes Projekt gefunden haben, das ihrem Leben einen Sinn geben kann“, meint der Soziologe Jean Viard. Unterdessen bezeichnen es Beobachter wie der Soziologe Pascal Perrineau schon als „Herausforderung, die FN auf 15 Prozent zu begrenzen“. Jean-Fran¿ois Kahn, Chefredakteur des Wochenmagazins 'L'événement du jeudi‘, vermutet das Wählerpotential der FN sogar bei über 30 Prozent: „Die Front National realisiert heute Wahlergebnisse, die deutlich geringer sind als ihre potentielle soziologische Schicht und geringer als ihre wortgewaltigen Fähigkeiten zur Verführung.“ Lediglich dem ständigen Bloßstellen der „lepenistischen Ideologie“ durch Journalisten, Intellektuelle und Politiker sei es zu verdanken, daß der Damm gegen die „neofaschistischen Sirenen“ noch nicht gebrochen sei.

Ist Le Pen auf dem Weg zur Macht? Von den Regionalwahlen am Sonntag verspricht sich das Land daher Aufschluß über die wirkliche Kräfteverteilung. Doch unabhängig von den Wahlergebnissen haben die Ideen der FN Frankreich bereits infiziert und sind gesellschaftsfähig geworden. Le Pen ist heute in aller Munde, seine Themen sind in allen Köpfen.

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