Plattenbauten sollen 100 Jahre alt werden

■ Bausenator Nagel ließ Gutachten über die Ostberliner Plattenbauten erstellen/ Für die Sanierung der Wohnsilos fehlen 13,8 Milliarden Mark

Marzahn. Neben dem Grünen-Pfeil und der Club Cola dürfen nun auch die Ostberliner Plattenbauten die deutsche Einheit überleben. Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) ist strikt gegen einen Abriß dieser Errungenschaften sozialistischer Baukunst. Schon angesichts der Wohnungsnot seien Instandsetzung und Modernisierung gefordert, erklärte Nagel gestern auf einer Pressekonferenz. Über 700.000 Berliner haben in Plattenbauten mit programmatischen Namen wie »WHH GT 85«, »Q3A« oder »SK Scheibe« ihr Zuhause.

In einem von der Bauverwaltung angeforderten Gutachten kommt das Ingenieurbüro »Specht und Partner« zum Schluß, daß die ostdeutschen Wohnsilos »ohne weiteres 100 Jahre alt werden« können. Voraussetzung seien regelmäßige Instandhaltungsmaßnahmen, sagte Chefgutachter Manfred Specht. Es sei technisch möglich, die Gebäude auf den Standard westlicher Sozialwohnungen zu bringen. In 35 Einzelgutachten untersuchte sein Büro Statik, Sicherheit, Heizungs-, Elektro- und Sanitäranlagen zehn verschiedener Plattenbautypen. Das mehrere tausend Seiten dicke Gesamtgutachten verschlang 2,3 Millionen Mark.

Allen Vorurteilen zum Trotz stehen die Plattenbauten nicht vor dem Zusammenbrechen. Dennoch weist die Untersuchung auf gravierende Mängel hin. Asbest wurde von den Gutachtern nicht gefunden. »Dieses Problem beschränkt sich auf die bekannten rund hundert Wohnungen in Friedrichshain«, erklärte der für Wohnungsbau zuständige Abteilungsleiter der Senatsbauverwaltung, Günter Fuderholz.

Nach Berechnungen des Ingenieurbüros betragen die Kosten für Instandsetzung und Modernisierung der Plattenbauten pro Wohnung durchschnittlich 85.000 Mark. Allerdings müßten bis 1997 mindestens 3,6 Milliarden investiert werden, um den Verfall der Gebäude zu stoppen, sagte Manfred Specht. Insgesamt würden weitere 10,2 Milliarden Mark benötigt, die bis ins Jahr 2010 gestreckt werden könnten. Specht erinnerte daran, daß bei zehn bis fünfzehn Prozent der Plattenbauten bereits der kostengünstigste Zeitpunkt der Instandsetzung verpaßt worden sei. Doch ein Neubau würde die dreifachen Kosten verursachen.

Bausenator Nagel, der das Gutachten als »Pionierarbeit für den ehemaligen Ostblock bis Wladiwostok« bewertete. will die Ergebnisse während der heutigen Senatssitzung dem Finanzsenator in die Hand drücken. »Das Geld für die Sanierung können wir nur aus Steuerkraft oder Neuverschuldung aufbringen«, sagte der Bausenator. Im Abgeordnetenhaus werde er darauf drängen, daß neben der Neubauförderung und der Stadterneuerung die Sanierung der Plattenbauten als dritte Säule der Bauförderung anerkannt wird.

Auf die Mieter der Plattenbauten dürften dennoch zusätzliche Belastungen zukommen. Senator Nagel schloß nicht aus, daß Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfelds zugunsten der Sanierung zurückgestellt werden könnten. Nicht zuletzt sei eine Verbesserung der Wohnsituation nur mit »finanzieller Mitwirkung« der Mieter erreichbar. Micha Schulze