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Nicaragua zwischen Aufschwung und Protest

Massenarbeitslosigkeit als Kehrseite des wirtschaftlichen Aufschwungs/ Demonstrationen in Managua/ Soziale Revolte befürchtet/ Regierung und Sandinisten hinter verschlossenen Türen gemeinsam auf der Suche nach einem Weg aus der Krise  ■ Aus Managua Ralf Leonhard

Die Straßen von Managua sind einmal mehr Schauplatz von Demonstrationen. Letzte Woche marschierten zuerst die Bauarbeiter für höhere Löhne, dann versammelten sich Tausende von Landarbeitern aus allen Teilen Nicaraguas vor dem Regierungssitz, um gegen den rapiden Verlust von Arbeitsplätzen zu protestieren. Der sandinistische Gewerkschaftsdachverband drohte sogar mit einem Generalstreik. Die beschleunigte Privatisierung der Staatsbetriebe treibt Tag für Tag die Zahl der Arbeitslosen in die Höhe, die schon jetzt nach Schätzungen der Gewerkschaften bei über fünfzig Prozent liegt. Allein auf den Bananenplantagen von Chinandega, die in den nächsten Tagen in Privatbesitz übergehen, sollen 1.500 der 4.700 Arbeiter entlassen werden.

Da die Kaffeebauern und Baumwollpflanzer wegen des Preisverfalls auf dem Weltmarkt ihre Kredite nicht zurückzahlen konnten, haben die Banken jetzt kein Geld, um den Campesinos die Aussaat der Grundnahrungsmittel vorzufinanzieren. Und im kargen Nordwesten droht nach dem dritten Dürrejahr eine Hungerkatastrophe. Im Norden und Osten, wo gerade zehntausend Rebellen ihre Waffen abgegeben haben, tauchen ständig neue bewaffnete Gruppen auf. Letzte Woche besetzten ehemalige Konterrevolutionäre und entlassene Soldaten die Stadt Ocotal, um soziale Forderungen und die versprochene Zuteilung von Ackerland durchzusetzen. Dabei sah das lokale Bataillon ungerührt zu, und die Bevölkerung klatschte Beifall.

Kommentatoren in den prosandinistischen Medien beginnen, die Situation mit der Venezuelas vor dem jüngsten Putschversuch zu vergleichen. Und Arbeiterführer, sekundiert von den Universitätsrektoren, warnen vor sozialen Explosionen. Auf einem Forum, das die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung und die Nationaluniversität letztes Wochenende organisiert hatten, um gemeinsame Lösungen aller sozialen Kräfte zu suchen, knallten die Positionen der Gewerkschaften und der Arbeitnehmervertreter frontal aufeinander.

Während die Arbeiter finanzielle Opfer von den Reichen fordern und das mit der Regierung ausgehandelte Recht auf ein Viertel des Betriebskapitals aller zu privatisierenden Unternehmen in Anspruch nehmen wollen, pries Ramiro Gurdian, der Chef des Unternehmerverbandes, die Segnungen eines uneingeschränkten Kapitalismus: „Wenn die Arbeiter mitbestimmen wollen, dann sollen sie doch Aktien kaufen.“ Selbst der chilenische Manager Mario Centeno, der auf Einladung der Konrad- Adenauer-Stiftung den Nicaraguanern in einem Seminar das chilenische Modell nahezubringen versuchte, sieht die Sache differenzierter. Er räumte nämlich ein, daß man in Chile die sozialen Kosten der Massenarbeitslosigkeit unterschätzt hatte.

Doch trotz dieser Selbstkritik gibt es Unterschiede: Als seinerzeit Tausende von chilenischen Arbeitskräften entlassen wurden, habe sich Santiago mit Taxis gefüllt, denn viele hätten ihre Abfindung in ein Auto investiert, berichtete Centeno. In Managua dagegen stieg das Angebot von Bier und Coca-Cola, denn die dort ausgezahlte Abfindung reichte bestenfalls für eine Kühltruhe.

Präsidialminister Antonio Lacayo gab zwar vor kurzem zu, daß die objektiven Bedingungen für Hungeraufstände gegeben seien, doch gleichzeitig verwies er auf Erfolge seines Wirtschaftsprogramms: Die Hyperinflation konnte gedrosselt werden, und die Landeswährung ist seit einem Jahr stabil. Nicht einmal die Grundnahrungsmittelpreise sind nennenswert gestiegen. Die Wirtschaftsindikatoren seien so günstig, daß eine Steuersenkung den Aufschwung einleiten soll, erklärte Lacayo. Ausnahmsweise einig sind sich die Sandinisten und Vertreter des rechten Flügels im Regierungsbündnis, wenn sie kritisieren, daß das Gesundungsprogramm auf Kosten der Sozialleistungen und der Produktion gehe. Die hygienischen Zustände in den Spitälern und die Unterversorgung mit Medikamenten schreien zum Himmel. Und in den öffentlichen Schulen muß zwar seit neuestem eine Gebühr bezahlt werden, doch für jeden dritten Grundschüler gibt es keinen Sitzplatz. Nach der Senkung der Importzölle sind selbst die inländischen Agrarprodukte auf dem heimischen Markt gegen die ausländische Konkurrenz chancenlos. Jeden Tag gibt es weniger Gehaltsempfänger, und auf den Straßen nimmt der Konkurrenzdruck unter den fliegenden Händlern immer mehr zu.

Die sandinistischen Gewerkschaften haben daher schon vor ein paar Wochen einen Notstandsplan vorgelegt, der 120.000 Landarbeiter zumindest vorübergehend mit Latrinenbau und Aufforstung beschäftigen soll. Die Regierung lehnte das Programm damals ab, weil keine Mittel vorhanden seien. Inzwischen scheint sie aber die Lage ernst zu nehmen. Am Wochenende bat Lacayo die sandinistische Führung zu einem Treffen hinter verschlossenen Türen, um einen gemeinsamen Weg aus der Krise zu suchen. Der ehemalige Präsident Daniel Ortega empfahl der Regierung, vom orthodoxen Strukturanpassungsprogramm abzuweichen, um größeres Unheil zu vermeiden. Vor allem die Finanzierung des bevorstehenden Agrarzyklus, die Beschleunigung der Landvergabe an ehemalige Contras und Soldaten und die Schaffung von Arbeitsplätzen stehen auf der Wunschliste. Die Sandinisten sind selbst daran interessiert, größere Unruhen zu vermeiden. Das wird ihnen aber nur dann gelingen, wenn sich die Lage wirklich bessert. Denn an der Basis gärt es, und die Autorität des Nationaldirektoriums, der sandinistischen Führung, ist stark angekratzt. „Wenn's einmal losgeht, dann kann uns auch Daniel nicht stoppen“, meinte eine Landarbeiterin während der Demonstration letzte Woche.

In Nicaragua ist zwar nicht zu befürchten, daß sich das Militär an die Spitze einer Aufstandsbewegung stellt, doch umgekehrt hat Armeechef Humberto Ortega klargestellt, daß er eine Hungerrevolte nicht mit Waffengewalt niederschlagen würde.

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