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Eine Verfassung von Neckermann

■ Parteien diskutierten »Grundphilosophien« zur Verfassungsänderung/ CDU und FDP gegen größere Reformen/ SPD für plebiszitäre Elemente/ Nicht nur alle vier Jahre Kreuzchen auf dem Wahlzettel

Berlin. Die Westberliner Verfassung von 1950, die heute in Gesamt- Berlin gültig ist, qualifiziert »jeden Mißbrauch wirtschaftlicher Macht« als widerrechtlich. An die Existenz dieser Klausel erinnerte gestern in der Enquete-Kommission zur Verfassungsreform der SPD-Abgeordnete Alexander Longolius.

Daß kaum einer diese Klausel kennt, weist auf ein Problem hin, das gestern im Zentrum der Enquete-Debatte stand, in der alle Parteien ihre »Grundphilosophien« erläuterten. Sollte eine Verfassung politische Forderungen und Zielbestimmungen enthalten — obwohl sie nicht einklagbar sind und folglich leicht in Vergessenheit geraten? CDU und FDP wandten sich klar dagegen. Grundrechte wie die auf Arbeit und Wohnung, die seit 42 Jahren in der Westberliner Verfassung verankert sind, könnten »keinen einzigen Mißstand« in der Stadt beheben, meinte der CDU-Abgeordnete Klaus Finkelnburg. Ebenso wie er wollte auch Rolf-Peter Magen für die FDP keinen »Neckermann-Katalog« von unerfüllbaren Wünschen auflisten. Anders dagegen Longolius. Forderungen hätten ihre Berechtigung, auch wenn sie nicht Realität seien. Der SPD-Abgeordnete regte an, den Regierenden Bürgermeister regelmäßig Bericht erstatten zu lassen, wieweit Grundrechte auf Arbeit, Wohnung, Gleichberechtigung erfüllt seien.

Renate Künast (Bündnis 90/ Grüne) schlug vor, Verfassungsrechte mit konkreten Arbeitsaufträgen zu verbinden, etwa das Gleichberechtigungspostulat für Mann und Frau mit der Forderung nach Quoten und Förderplänen. Auch das Recht der Frau, »in Freiheit über die Fortführung einer Schwangerschaft zu bestimmen«, sollte aufgenommen werden, obwohl diese Frage vom Bund entschieden werde. Horst Kellner (PDS) verlangte, die »soziale Verpflichtung des Staates« zu erweitern. »Das Recht auf Arbeit ist nicht utopisch, sondern sehr realistisch«, meinte auch Bärbel Bohley vom Neuen Forum.

»Die Verfassungsdiskussion muß in die Bevölkerung hineingetragen werden«, forderte die Bürgerrechtlerin. Sie erinnerte an den Grund, warum die Abgeordneten überhaupt über eine Verfassungsänderung beraten: Die Ostberliner hatten diese Forderung im Herbst 1990 den Westberlinern abgetrotzt. »Die Wende ist eine tiefe Zäsur für uns alle«, deshalb sei die Verfassungsdebatte notwendig, versicherte der Westberliner Longolius. »Wir wollen plebiszitäre Elemente stärken«, versprach der SPD-Abgeordnete, ohne freilich konkret zu werden. Es wäre eine »traurige Geschichte«, assistierte sein Ostberliner Parteifreund Knut Herbst, wenn die Bürger nichts machen könnten als alle vier Jahre die Kreuzchen auf dem Wahlzettel.

Der FDP-Mann sah angesichts dieser Forderungen schon das Gespenst von »Weimar« heraufziehen. Höchstens sei an Veränderungen wie eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre zu denken. Auch Finkelnburg formulierte gegenüber plebiszitären Elementen »äußerste Zurückhaltung«. »In vielen Einzelfragen« der Verfassungsänderung sei er zwar »noch nicht festgelegt«, plädiere dennoch für nur »punktuelle Änderungen«. Selbst einen Änderungswunsch seines Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen, den Finkelnburg kürzlich noch unterstützt hatte, wollte er gestern nicht bejahen: Es sei für die CDU noch »völlig offen«, ob dem Regierenden das Recht zugestanden werden sollte, die Senatoren selbst zu ernennen und zu entlassen — oder ob dieses Recht beim Abgeordnetenhaus bleiben sollte. hmt

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