: Ein Virtuose der Tonspur
■ Über „Von Luft und Liebe“
Am Anfang sieht man gar nichts. Bloß Dunstschwaden, Geräusche und ein Dialog. Zwei Frauen reden über Männer. Reiche, häßliche, schiefnasige, attraktive, normale, arme und besondere Männer. Das Bild klart auf: Martina (Angela Finocchiaro) und ihre Freundin Loredana in der Sauna. Folgt eine Schwarzblende, man sieht also wieder nichts, und in der Dunkelheit schreit ein Kind nach der Mama. Als es wieder hell wird, füllt Martina das Fläschchen mit Milch. So schnell werden im Kino Wünsche erfüllt: Nichettis Film- Vorspann macht sich einen Spaß daraus und führt uns hinters Licht.
Denn wer glaubt, was er gesehen hat, der irrt. Martina ist keine Mama. Zwar versteht sie sich als eine Art Sozialarbeiterin, aber ihre Kunden sind besonderer Art. Der alte Professor, der so gerne Säugling spielt. Die Zwillings-Architekten, die Martina beim Aufstehen zugucken. Das nekrophile Ehepaar. Der Koch, der Martinas Körper mit Sahnecreme überzieht. Der sadistische Taxifahrer, der mit mörderischer Geschwindigkeit durch Mailands Straßen rast. Und der Einbrecher, der seinen Lustgewinn aus dem allabendlichen bewaffneten Raubüberfall auf Martina respektive ihre Handtasche zieht. Ein stressiger Job.
Auch Maurizio (Nichetti selbst) geht einem ungewöhnlichen Beruf nach: Zusammen mit seinem Bruder macht er Geräusche. Patrizio synchronisiert Pornos, Maurizio Zeichentrickfilme. Dafür rennt er durch die Straßen und nimmt schreiende Babies samt kreischender Mutter auf, Squash-Spieler, Feuerwehrsirenen, Martinshörner und einstürzende Neubauten. Im Studio erweckt er als eine Art Einmannorchester mit Hupen, Tröten, Ratschen, Pfeifen und anderem Instrumentarium Popeye und Mickymaus zu geräuschvollem Leben: ein Virtuose der Tonspur. Sein Problem: der kleine Mann mit Nickelbrille und Schnauzer hat vor lauter Comic-Sound das Reden verlernt. Den Mund kriegt er kaum auf. Als er sich in Martinas Augen verguckt, erst recht nicht mehr. Seine Schüchternheit verwandelt ihn förmlich — in eine Zeichentrickfigur.
Erst machen sich seine Hände selbständig. Fliegen in der Gegend herum, essen ohne Besteck, tanzen mit Martina des Nachts im Park. Maurizio bleibt nichts als Schimpfen oder Zuschauen. Steht im Wortsinne neben sich. Hat sich nicht mehr in der Hand. Die Schöne und das Biest — ein Slapstick.
Die Idee zu Von Luft und Liebe hatte Nichetti schon 1982. Aber damals interessierte sich keiner für solch technisch komplizierte Mischungen zwischen Real- und Animationsfilm. Das änderte sich erst nach dem Kassenerfolg von Roger Rabbit. Der Unterschied: Nichetti ist ein Radikaler. „Normalerweise geht man in der Metamorphose zugrunde (Dr.Jekyll und Mr.Hyde), oder man kehrt wieder zurück in einen ganz normalen Zustand (Schneewittchen), oder die Person, die das Ungeheuer liebt, macht ihrerseits eine ähnliche Verwandlung durch (Splash).“ Nicht so Martina. Sie nimmt Maurizio wie er ist. Ein Märchen? Der Regisseur bestreitet das. Schließlich, so Nichetti, verwandeln wir uns in gewisser Weise doch alle, wenn wir uns verlieben. chp
Maurizio Nichetti: Von Luft und Liebe. Mit Nichetti, Angela Finocchiaro, Patrizio Roversi. Italien 1990, 92Minuten.
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