: Harry Klein darf nicht sterben
Vielleicht die letzte Folge: „Mord im Treppenhaus“, ZDF, 20.15Uhr ■ Von Ejo Eckerle
Die Gerüchte wollen nicht verstummen: Derrick hört auf. Nach 225 Folgen hat Serienautor Herbert Reinecker ein Einsehen und legt den Griffel weg. Offenbar ist mit 78 Jahren endlich die Altersweisheit über ihn gekommen. So viel Chuzpe wie er hatte in diesem Gewerbe keiner: 18 Jahre lang Derrick-Drehbücher zu schreiben, ohne die geringste Ahnung zu haben, worum es wirklich geht, das ist schon eine Leistung.
Wenn uns Drehbuch-Fuchs Reinecker ins Milieu entführte, kamen wir aus dem Staunen nicht heraus: Die drogenabhängige Studentin Sanne Luppertz residierte in einer Schwabinger Dachzimmer-Flucht, die vom Requisiteur ausgestattet war, als müßte anschließend eine 'Schöner Wohnen‘-Story dort fotografiert werden. Und erst Thommy Fritsch, der ewig junge Dealer aus dem Englischen Garten! Ganz zu schweigen von den vielen erlesenen Grünwalder Immobilien, die wir im Laufe der Jahre besichtigen durften.
In keiner Serie klingelte öfter das Telefon, wurden so oft Türen geöffnet und zugeschlagen, blickten uns so lange Augen fragend an, besonders zwei — die von Oberinspektor Stephan Derrick — das Basedow- Triefauge des deutschen Fernsehens, einer der letzten TV-Zombies dieser Tage. Der Mann hat gut lachen: Mit 68 läßt sich der Trenchcoat leicht an den Nagel hängen. Was aber wird aus Harry Klein? Etwa ein Frührentner? Achtzehn Jahre lang ist er seinem Boß hinterhergetapert, durchschnittlich 27 Sätze lang waren seine Auftritte, Sätze wie diese: „Ich fahr' schon mal vor, Chef!“
Dein Chef hat dich verraten, Harry Klein — für eine Handvoll Dollars. Nichts wird aus der Beförderung. Von wegen Oberinspektor. Welche Chance! Endlich könnte Harry Klein zeigen, daß in ihm mehr steckt als die Seele eines deutschen Schäferhundes. Ein paarmal hast du es ja versucht im Privatleben. Kannst du dich noch an die große Sause im Dezember '74 in der Tengstraße erinnern? Du und deine Saufbrüderschaft haben einen solchen Lärm gemacht, daß die echte Polizei euch aufs nächste Revier beförderte. Oder damals, im März '83, als du ein paar Wiederholungshonorare am Finanzamt vorbeischmuggeln wolltest. Leider sind sie dir draufgekommen, und Harry Klein mußte vor den Kadi. Die Sache mit dem Kokabriefchen wollen wir dagegen ganz schnell vergessen. Trotzdem zeigt es: In diesem Mann stecken noch völlig unausgelotete Tiefen. Aber was passiert? Beim Künstlerdienst des Arbeitsamtes legen sie schon mal vorsorglich eine Akte an und sichten die Angebote: Wie wär's mit der Nachfolge von Hugo Egon Balder? Chin, Chin, macht 1.000 Länderpunkte für die Blaubeere!
Uns schwant nichts Gutes. Bekanntlich befinden sich neun Jagdflinten, eine Pistole sowie ein kurzlaufiger Revolver in deinem Besitz. Und dann die vielen Rechnungen, die noch offenstehen. Weißt du noch, damals, als nach dem fulminanten Cabaret-Kurzauftritt Hollywood bei dir anklopfte und dein piefiger Produzent auf Erfüllung deines Kriminalbeamtenvertrages pochte? Gib's zu, Harry, das tat weh. Und dein Chef — „Stephan“ durftest du ihn nennen — tat auf leutselig und paßte auf wie ein Luchs, daß du ja nicht zwei Silben zuviel Text sprechen durftest. Sonst hätten ja die Leute noch gemerkt, daß der eigentliche Star dieser Serie du warst. Statt dessen quälten uns namenlose Regieknechte mit schier endlosen Einstellungen, die den somnambulen ZDF- Chefermittler bei seinem faden Tagwerk zeigten. Achtzehn Jahre lang hast du deinen Mund gehalten, niemals aufgemuckt. Kein Widerwort kam von dir gegen einen vergreisten Serienschreiber, der dir immer noch den Schandilehrbub auf den mittlerweile 50jährigen, füllig gewordenen Leib schreibt. Glaub' uns, Harry, das hinterläßt Narben auf der Seele. Und die fangen jetzt an zu jucken. „Wenn man den Harry Klein nicht mehr will, muß man mich erschießen“, hast du mal gesagt. Würde ich mir nochmal überlegen. Wir fahren schon mal vor, alles klar, Harry? Vergiß nicht, Treffpunkt Hofoldinger Forst. Es soll aussehen wie ein Jagdunfall. Aber du machst das schon, da sind wir ganz sicher...
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