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Kaspar Hauser, zweites Leben

■ Zur Projektionsfläche eines Falles

Sie fingen an zu sprechen und so stark, daß es mir im ganzen Leib wehe gethan hatte; ich fing an zu weinen.“ So schildert Kaspar Hauser, der am 16.Mai 1828 als etwa Sechzehnjähriger in Nürnberg auftauchte und fünfeinhalb Jahre später von Unbekannten ermordet wurde, seine erste Begegnung mit der menschlichen Sprachgemeinschaft. Seitdem ist der Diskurs über den mysteriösen Findling nicht abgerissen. Die lokale Tagespresse weitete sich dabei zu einer Kultur- und epochenübergreifenden Konversation über die letzten Dinge aus. Die historische Gestalt verwandelte sich in eine literarische Figur von fast mythischen Proportionen. Der Sprachlose wurde Projektionsfläche für sprachliche Weltdeutungen der verschiedensten Geistesrichtungen.

Schon die Zeitgenossen sahen in Hauser mehr als nur das Opfer eines grausamen Verbrechens. Beeindruckt von der Gutartigkeit des Findlings und seine durch die lange Einkerkerung extrem verfeinerte Wahrnehmungsfähigkeit, hielten sie ihn für einen paradiesischen Urmenschen, das Muster einer unverdorbenen, weil zivilisatorisch unbeleckten Seele. Bänkelsänger und Schauerromane machten die Theorie, es handele sich bei Hauser um einen um seinen Thron gebrachten Prinzen, beim gemeinen Volk populär. Andere denunzierten ihn als besonders ausgebufften Betrüger.

Das zweite Leben des Kaspar Hauser — als Geschöpf der Phantasie, als lyrisches Rollen-Ich, als Bühnenfigur und Filmheld — hat der Germanist Ulrich Struve recherchiert. Herausgekommen ist ein reich illustriertes Lesebuch — eine vorbildliche Anthologie, die nicht nur verschollene literarische Bearbeitungen des Stoffes wieder zugänglich macht, sondern das Material so kommentiert und gliedert, daß die hundertsechzigjährige Wanderschaft der Hauser-Mythe durch verschiedene Nationalliteraturen und Medien sichtbar wird.

Während der Fall Hauser in Deutschland Mitte des 19.Jahrhunderts überwiegend in Schauerromanen ausgeschlachtet wurde, eroberte er sich in Paris und Edinburgh bereits die Bühne. In New York trat 1838 ein Caspar Hauser, „halb Tier, halb Mensch“ am Broadway auf. Die Errettung der Figur aus den Niederungen der Kolportage verdankt die deutsche Literatur Verlaine, dessen Gedicht Gaspard Hauser chante die Hauser-Renaissance der Jahrhundertwende auslöst. Hausers Fremdheit in der Welt, sein Ausgestoßensein, seine Sprachnot treten von da an in den Vordergrund: Er wird zu einer zentralen Indentifikationsfigur für die Dichter der Moderne. Die Mehrzahl der Autoren sieht Hauser als Opfer der Gesellschaft, wie der junge Handke, der Kaspar als Objekt einer „Sprechfolter“ auf die Bühne bringt. Esoteriker in der Nachfolge Rudolf Steiners hingegen machen aus ihm eine Heiligenfigur. Sie verehren das Kind aus dem Nichts als Inkarnation eines höheren Wesens mit okkulter Mission.

Mehrfach nimmt die deutsche Kultur die Hausmythe bereichert oder auch entrümpelt aus der Fremde in Empfang, und immer wieder neu verwandelt exportiert sie ihn in alle Welt. Besonders erfolgreich erwies sich dabei zuletzt Werner Herzogs 1975 in Cannes ausgezeichnete Verfilmung des Stoffes. Sie hat, wie die Anthologie zeigt, Lyriker bis nach Neuseeland zu neuen Gedichten über Hauser angeregt. Das alles gibt der dadaistischen Totenklage recht, die Hans Arp 1912 auf Hauser geschrieben hat, und die schließt: „seine büste wird die kamine aller wahrhaft edlen menschen zieren doch das ist kein trost und schnupftabak für einen totenkopf.“ Michael Bienert

Ulrich Struve (Hrsg.): Der Findling. Kaspar Hauser in der Literatur. Metzler Vlg., geb., 38DM.

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