: Die Seiltänzerin muß stürzen!
■ Die „Wundertüte“ — ein familiär verruchtes Varieté serienmäßig im Astoria
„Die total verrückte Show der Tops und Flops“ — oder „Astoria-Kabarett“ — oder „Wundertüte“ — oder wat? Mit dem Namen wird noch improvisiert, und sonst auch. Donnerstag war Premiere einer '68 verblichenen Bremer Tradition: Varieté im „Astoria“, gemütlich, familiär, ein winzig bißchen verrucht.
Jetzt aber sind die 90er, Variete muß in einem fort den Abstand zum TV beweisen, auch zu „Schmidt's“ Fernsehschau, sonst geht's unter. Da ist der Fehler die Chance. Die Seiltänzerin muß stürzen (von Zirkus Casselli ausgeliehen); die Keulen müssen zu Boden rumpeln; die Tontechnik muß ausfallen. Wenn die Improvisation gelingt — womöglich durch Koketterie mit dem Flop selbst — stellt sich Glück ein.
Ja, Glück. Das ist wahr. Es stellt sich auch ein, wenn Heinichen die Puppen tanzen läßt. Mit Marcel Wagner bestritt die Bremer Puppenbühne ein gutes Stück des 2-Stunden-Programms; der Pianist mit den fliegenden Rockschößen bekam mehr Jubel als alle lebendige (?) Konkurrenz.
Christiane Mueller, Bremer Diseuse, führte mit heftiger Begeisterung, die nicht ansteckend war, durchs Programm und schaffte mit det Fett us de Obaschenkel kratzen wegen Emil seine unanständje Lust Nostalgie ran. Immer auf der Suche nach dem Mann. Ihr Michael Berger am Piano (festgefrorenes Lächeln, technisch überqualifiziert) reicht nicht.
Eine Sonderform von Mann: Zauberer Frank mit seiner BH- Nummer! Das arme Opfer! Alles Damp-2000-erprobt. Vielfach. Und doch: Ran ans Publikum mit Anfassen, das hat man vore Glotze nicht. Noch'n Mann: (erotisches Licht an, Unterleib- Mucke abfahren) Das ist ... Lars!!! Der zieht sich bis auf eine Winzigkeit aus. Und wirklich: Frauengekreisch! Erst recht, wenn er seinen Kopf durch die Beine steckt. Und mit den Augenbrauen winkt. (Igitt!)
Zu viel Playback-Kram mit Mathias Marquard (Sinatra, Paul Anka...) und Transe Sandy Williams. Zu wenig Leute. 150 etwa, die machen aus der mit rotem Samt abgetrennten Technohalle keine Plüschbude. Läßt die Spannung nach, schweift der Blick, und man weiß, wir sitzen in einem leeren Haus in einem leeren Viertel. Das Publikum muß noch viel besser eingepackt werden.
Fürs Leibliche ist gesorgt: Lachsschnittchen (3.50 Mark) und Frank. Der macht die Drinks sonst im Meyer Lanksy am Gänsemarkt (Hamburg) und bringt aus der Metropole die abgefahrensten Früchte mit. Baut vielstöckige Getränke daraus. Mit eßbaren Orchideen! Bus
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