Seh-Herzen, Fühl-Augen

■ „Erwi & Alvi“ setzen Cervantes' „Don Quixote“ im Schlachthof ein würdiges Reiter-Denkmal / Die Illusion lebt!

Wer will schon hinter Münchnern zurückstehen? Nein, auch wir können ein Publikum sein, das durchgeht: 74 bejubelte Münchner Aufführungen und Preiskronen schieben „Erwi & Alvi“ wie eine Bugwelle vor sich her und in

Wie die beiden auf ihren Stühlen traben!

ihre Wahlheimat und machen uns damit platt. Wir geben aber zu bedenken, daß Propheten, wären ja sonst keine, erstmal immer nix gelten. Und dann ausgerechnet in Bremen!?

Wer kann das aber auch ahnen, wenn jemand aus eigener Schuld „Erwi & Alvi“ heißt?! Das klingt doch nach dressiertem Jongleur und seinem singenden Pudel und

hierhin bitte

die beiden

Stuhlhocker

nicht nach einem derart lakonischen, freundlichen, zauberhaften Theater. Namen sind schließlich vorausreitender Schall und kein Rauch und bestechen das Vorstellungsvermögen. Wußte schon Don Quixote und suchte lange nach dem einzig möglichen Namen für sein unmögliches Pferd und seine imaginäre Anzubetende, daß allein das Klingen schon Welten zementiere. Was, wie wir wissen, in Rosinante und Dulcinea gipfelte und bis heute gilt.

Und keinen geringeren als Don Quixote de la Mancha und seinen Sancho Pansa stellen Erwing Rau und Alvaro Solar, Exil-Chilenen, noch Bremen, auf die Bühne: den Ritter von der traurigen Gestalt, dem übers Ritterromanlesen der Verstand verloren ging, und sein kleines dickes Stallmeister. Seit 400 Jahren stehen die zwei Windmühlen-Kämpen zwar auch für dick und doof — aber eigentlich für Hoffnungslosigkeit mit Stil, für den Zusammenstoß edlen Geistes mit den Niedrigkeiten des Alltags, für das Abenteuer, zu sehen, was es nicht gibt — „denn Augen, die nur sehen, was vorhanden ist, sind blind“.

Erwi und Alvi nehmen sich Don Quixotes Ende an und geben ihm seine Fantasiewelt zurück — im Gegensatz zum Roman, wo ein verdrossener Quixote seine Vernunft wiedererlangt und statt als alter Tor als erneuerter „Verständiger“ stirbt. Eine ungemein rührende und disziplinierte Burleske ist aus der Umdeutung entstanden, eine Art erdverbundene Kammer-Revue mit hingeworfenen Musikstückchen und luftigsten Ausflügen in die Höhe. Die Höhe ergeben hochgestapelte Lehnstühle, die zusammen ein ganzes Pferd machen — zumindest einen Klepper wie Rosinante. Ein einziges glucksendes Vergnügen, wie die beiden ihre Stühle antreiben, mittels zweier Trommeln im Doppeltrott traben und im Dämmern in einer multiphonen Viehherde aufwachen. Doppelt toll, wie die arm-selige Wunderwelt des Quixote mit der stapelbaren requisitorischen „Armut“ von vier Stühlen und einem Melkhocker korrespondiert. So wird der ganze Schein auf seine zugrundeliegende Not-Dürftigkeit zurückgeführt, ohne ihn zu verraten.

Anderthalb schwerelose Stunden lang schafft es der Diener, das Sterben seines Herrn aufzuhalten — und am Ende bleiben dessen vitale Illusionen am Leben.

Solange es noch solche fahrenden Komödianten gibt, solange gibt es noch solche Ritter. Hoffen wir, daß sie hierbleiben. Claudia Kohlhase

Heute und morgen letzte Chance:

Schlachthof, 20.30h