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Kein Überschlag für die Meisterturner

■ Trotz eines Weltklasseaufgebots zieht es — anders als zu DDR-Zeiten — kaum noch Zuschauer zum traditionellen Internationalen Turnwettkampf in die Cottbuser Stadthalle

Cottbus (taz) — Zu Zeiten der DDR war die Stadthalle von Cottbus bis auf den letzten Platz gefüllt, wenn sich die internationalen Meisterinnen und Meister zum gemeinschaftlichen Turnen trafen. Jetzt ist die DDR weg, und mit ihr gingen auch die Zuschauer. So glich die Stimmung zeitweise der, die man aus Aussegnungshallen kennt. Was paradox ist, angesichts der Entwicklung dieses Wettkampfes: Früher schickte lediglich die DDR ihre Creme de la creme an den Start, während auf internationaler Ebene eher NachwuchsturnerInnen aufwarteten. 1991 schon stieg das allgemeine Niveau der Veranstaltung. Jetzt, bei der sechzehnten Auflage, gab es eine Topbesetzung, die keiner weiteren Superlative mehr bedarf. Selbst die ungarische Klasseturnerin Henrietta Onodi war überrascht ob des hervorragenden Feldes: „Es war ein schwieriger Wettkampf mit verdammt starken Leuten“, sagte sie. Dennoch wurde die Siegerin von Cottbus von der Konkurrenz nicht ernsthaft bedrängt. Bei der letztjährigen Weltmeisterschaft ins Mittelfeld gerutscht, fand die fast 18jährige in dieser Saison ihre Form wieder. Mit einer derartigen Leichtigkeit tippelte die kleine Person aus Bekescsaba über die Matte, daß selbst Sportungeübte den Eindruck bekommen mußten, Turnen sei die leichteste Sache der Welt.

Damit es so leicht aussieht, trainiert Onodi schwer: Bis zu sieben Stunden am Tag quält sich die Turnerin an den Geräten. Doch die Gründe für Erfolg oder Mißerfolg siedelt sie eher auf einer schlichteren Ebene an: „Bei der WM vergangenes Jahr hatte ich einfach ein bißchen Pech.“ Die Erklärung für den Sieg in Cottbus: „Da hatte ich eben etwas Glück.“ Das Glück soll noch anhalten bis zu den Olympischen Spielen in Barcelona. „Dannach ist alles völlig offen.“ Geturnt wird, solange es Spaß macht. Angst vor einem Gerät hatte sie noch nie. Auch nicht vor einzelnen Übungsteilen. Ob sie besondere Schwächen oder Stärken habe? „Oh je, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ Sieben Stunden Training, da bleibt offenbar nicht viel Zeit für Gedanken.

Noch mehr als Onodi freut sich Alexej Woropajew mächtig über seinen Sieg in Cottbus, lenkt er ihn doch kurzzeitig ab von anderen Sorgen. Befragt, wo er herkomme, sprudelt der Russe los: „Aus Moskau! Ach, ist es da zur Zeit schlecht — mit den Lebensmitteln und den Preisen.“ Für einen kurzen Moment scheint der Sieg fast vergessen, der Sieg, der so wichtig ist für ihn, den „Schattenturner“.

Woropajew wurde im Kindergarten gesichtet. Entdeckt wurde er erst später. Denn anfangs schien er zu instabil für einen Weltklasseturner. Erst bei den Junioren gelang ihm der Durchbruch: Er wurde in die sowjetische Nationalmannschaft zu Leonid Arkajew berufen. Und wieder turnte er hauptsächlich im Schatten anderer. Auch hier war er die „sichere Nummer“ zwei. So konnte sich der jetzt 19jährige auf internationaler Ebene bislang nur mit Mannschaftstiteln schmücken.

Der Mann vor Woropajew heißt Belenki. Waleri Belenki — 23 Jahre alt, Mannschaftsweltmeister 1989 und 1991, Weltpokalsieger 1990 im Mehrkampf und an drei Einzelgeräten, aktueller Weltmeister am Pferdsprung — war auch in Cottbus der große Favorit. Doch ihm passierte ein Mißgeschick im letzten Durchgang: Er mußte vom Seitpferd absteigen — Platz zwei hinter Woropajew. „Das wird nie wieder passieren“, knirschte Belenki hernach, „nicht bei der Einzel-WM Mitte April in Paris und auch nicht in Barcelona.“

Für die Europameisterschaft im Mai stellt sich die Frage wahrscheinlich nicht: Waleri Belenki kommt aus Aserbaidschan, das ist Asien, und Asiaten starten nicht bei der EM. „Was soll das Gerede von der Gemeinschaft unabhängiger Staaten? Wir sind doch überhaupt keine Gemeinschaft. Die GUS ist doch nur so ein pro-forma-Zusammenschluß, der bis zu den Olympischen Spielen halten soll. Dannach gibt es nur noch die einzelnen Länder!“

Da Aserbaidschan keine Trainingsmöglichkeiten für ihn bieten kann — nicht wegen des Krieges in Nagorny-Karabach, sondern weil so etwas schon immer Moskau überlassen wurde — will Belenki auf Dauer übersiedeln. Der russische Turnverband will den Spitzenturner künftig in seiner Nationalmannschaft sehen. Dafür muß der Aserbaidschaner keinen Asylantrag stellen, sondern lediglich einen festen Wohnsitz nachweisen können. Doch schon das ist angesichts der Wohnungsnot nicht ganz einfach.

Vielleicht hilft ihm die kleine Finanzspritze aus dem Cottbusser Turnier. Der Sieger erhielt 5.000 Mark, für den Zweiten gab es 3.000 Mark. Seit der Wende dürfen die Turner der GUS-Staaten das Geld endlich selbst einstecken — doch geteilt wird trotzdem. Belenki: „Ich gebe freiwillig einen Teil meines Geldes an meinen Trainer ab.“ Er wird wissen, was er ihm schuldet. Thomas Schreyer

Geräte-Finals, Turnerinnen: Sprung: 1. Henrietta Onodi (Ungarn) 9,837 Punkte, 2. Maja Hristowa (Bulgarien) 9,612, 3. Marie-Angeline Colson (Frankreich) 9,250, 4. Julia Stratmann (Bergisch-Galdbach) 9,237, Barren: 1. Maja Hristowa 9,825 Punkte, 2. Vanda Hadarean (Rumänien) und Roza Galiewa (GUS) 9,775, Boden: 1. Henrietta Onodi 10 Punkte; 2. Roza Galiewa (GUS) 9,90; 3. Maja Hristowa 9,80; 4. Diana Schröder (Berlin) 9,75.

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