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Ausbruch aus der Form

David Mouchtar-Samorai inszeniert Pirandellos „Heute wird improvisiert“ am Düsseldorfer Schauspielhaus  ■ Von Alexander Gorkow

Es ist nicht lange her, da nahm der Regisseur David Mouchtar-Samorai das Publikum im Düsseldorfer „Kleinen Haus“ bei der Hand und mit in die Nacht. Anne Weber kam als Indras Tochter in Strindbergs Traumspiel vom Himmel auf die Erde und staunte nun durch die Schablonen der Menschen. Und die Formen dort waren eng, der Rhythmus von Zeit und Erleben ein Rhythmus der Vergeblichkeit. Der junge Offizier wartete hier so lange auf seine Verlobte, bis er ein alter Offizier war. Derweil starrten wir immer wieder auf ein schwarzes Loch in der Bühnenwand. Nicht der Sinn des Lebens verbarg sich dahinter, sondern schließlich „Nichts!“. Das hatten wir zwar erwartet, aber an diesem Abend traf es uns trotzdem hart.

Die Inszenierungen von Mouchtar-Samorai arbeiten mit suggestiven Bildern. Dies sind keine Bilder des Bewußtseins, es sind — ähnlich wie bei Pina Bausch — Bilder aus dem Unterbewußtsein. Mouchtar-Samorai beleuchtet unsere Träume und macht aus allem ein Traumspiel — auch aus dem Theater. Ein Traum ist eine Sehnsucht, aber ein Spiel hat Regeln. Zu Beginn der Düsseldorfer Inszenierung von Luigi Pirandellos Stück Heute wird improvisiert, das 1930 in Berlin eine skandalöse Uraufführung erlebte, läuft alles angeblich durcheinander: Zwei Punktstrahler erhellen die riesige und leere Bühne, die Musik setzt ein, bricht ab, setzt wieder ein, bricht wieder ab. Das Chaos hat Konzept: Schauspieler im Publikum beginnen zu nörgeln, ein eifriger Regisseur in Anzug und Schal mit Namen Dr.Hinkfuß (Herbert Fritsch) besteigt hastig die Bühne und erläutert umständlich, wie man sich das alles heute abend so gedacht habe — Pirandello zeigt uns das Theater des Theaters.

Eine Gruppe Schauspieler möchte die Pirandello-Novelle Leonora Addio aus dem Stegreif inszenieren. Es geht um die sizilianische Familie LaCroce, um die expressive Mama Ignazia (Hanna Seiffert) ud die vier Töchter Mommina, Totina, Dorina und Nenè (Susanne Tremper, Nicole A. Spiekermann, Guilietta S. Odermatt und Anne Weber), die giggelnd und in schriller Häubchenmode zu früh oder zu spät zum Auftritt erscheinen und sich entgegen dörflicher Sitte lieber großstädtisch mit den Fliegeroffizieren vergnügen. Es geht um den Papa Sampognetta (Wolfgang Arps), der am liebsten ins Kabarett geht, und den die Leidenschaft zu der verzweifelten Sängerin (wunderbar: Marianne Hoika) umbringen wird.

Dies ist der erste Teil der kleinen Geschichte, um die herum Pirandello sein „Theater auf dem Theater“ erbaute. Und so erleben wir einmal mehr keinen Theaterabend mit Sinn und Form, sondern den weiteren Mouchtar-Samorai-Aufbruch eines ohnehin schon offenen Konzeptes: Un-Sinn und Un-Form. Der doppelte Aufbruch erfordert gleichwohl die doppelte Disziplin der Darsteller, die die Ordnung im Chaos herstellen müssen und die so die Spielregeln des Traums einhalten.

Wir erleben viel mehr als die kleine Geschichte aus Sizilien, wir erleben auch viel mehr als die urkomisch scheiternden Schauspieler, die erst dann zu fataler Wahrhaftigkeit gelangen, als sie ihren Regisseur feuern. „Sie müssen wissen“, sagt der eifrige Dr.Hinkfuß peinlich berührt, „daß dieses Durcheinander zur Inszenierung gehört!“ Und mit einer Mischung aus jungenhafter Altklugheit und gutbürgerlichem Charme geleitet der brillante Herbert Fritsch gleichwohl als Conferencier das Familienchaos durch einen wundersamen Reigen: „Folgen Sie mir in ein Dorf auf Sizilien, wo die Leidenschaften stark sind und dumpf brüten!“ Es folgt ein Aufmarsch der Groteske, ein Paradezug der großen „Commedia dell'arte“. Denn alle unsere Träume und Fatalitäten marschieren nun in sizilianischer Hochpotenz über die Bühne, übersteigert durch die Persiflage bis zur Wirklichkeit. Das Dorf marschiert als Kuckucksnestpersonal vorbei — maschinengleiche Nonnen, Greise und Kinder, schrille Weiber und geile Kerle, Faschisten und Damen, geleitet von einem Straßenfeger und fröhlich tobender Musik. Der Ausbruch aus der Form — den Pirandello so liebte und ohne den Mouchtar-Samorai gar nicht inszenieren kann — ist chronisch.

Und dafür hat Heinz Hauser eine weit in den Zuschauerraum ragende Bühne geschaffen, die die kurzen Stationen des Dramas in nahezu magisch anmutende Scherenschnittrahmen legt. Hier erleben wir die Familie LaCroce in der Oper, die dort eine süffisante Territorialschlacht mit dem maulenden Balkon gegenüber austrägt, hier erleben wir einen herrlichen Ausschnitt aus Verdis Macht des Schicksals, in der der nervöse Dirigent (Helmut Büchel) in Richtung Publikum dirigiert, hier entfalten sich die großen Momente der Sehnsucht, wenn der alte Sampognetta im Kabarett der Stimme seiner Angebeteten erliegt. Das Drama des Dramas konkretisiert sich bis ins Uferlose. In der Pause streiten und lamentieren die Schauspieler im Foyer über ihre Arbeit. Die Premierengäste lauschen verzückt oder erschrecken sich, weil der Mann neben ihnen plötzlich sehr laut eine schreckliche Geschichte erzählt.

Aber mehr und mehr vollzieht sich ein kleines Wunder an diesem Abend im Düsseldorfer Schauspielhaus. Der Graben zwischen Vorne und Hinten, zwischen Bühne und Saal wird gedreht und geschaukelt, bis wir alle zusammen in dem berühmten gleichen Boot sitzen. So oft hat Hausers Bühne uns mitgenommen — in das Wasserfarbenhaus der LaCroces, in die Verdi-Oper, auf den Flugplatz gar, wo riesige Fliegerschatten einer weiteren Sehnsucht Rechnung trugen —, so oft wurde das Spiel schon unterbrochen, und so oft haben wir jeden Moment der Eitelkeit, der Spielsucht und der Vergeblichkeit als den unseren erkannt, so oft haben wir über das fortwährende Scheitern des Stegreifdramas schon gelacht und nachgedacht, daß auch das bewegende Finale ein Teil von uns ist.

Das Stegreifspiel hat endlich seine eigene Form angenommen: Nur eine weiße Stellwand brauchen Mouchtar-Samorai, Hauser und die beseelte Susanne Tremper, um das Gefängnis einer Ehe darzustellen. Lange nach dem Tod des Vaters, geplagt von der Eifersucht ihres Mannes, erfährt Mommina, daß ihre Schwester Totina Sängerin in der Stadt geworden ist. Die Sehnsucht ist durch die Schwester in Erfüllung gegangen, vor den Augen ihrer beiden Töchter stirbt Mommina, als sie den Kleinen über die himmlische Berufung ihrer Schwester erzählt und dazu die Todesarie der Azucena aus dem Troubadour intoniert. Mit der Mommina nun stirbt auch die Stegreifspielerin — Schein und Sein haben sich im Moment der völligen Identifikation mit der Rolle aufgehoben zu blanker Wahrhaftigkeit. Das Premierenpublikum ist da schon kein Premierenpublikum mehr, und die Schauspieler, die jetzt über der toten Mutter beziehungsweise der toten Kollegin stehen, gehören auch ein wenig zu uns.

Die nicht eben erfolgverwöhnten Düsseldorfer quittierten diese in jeder Hinsicht außergewöhnliche Inszenierung zunächst mit vielsagenden Sekunden des Schweigens und dann mit Bravos und langem, langem Beifall. Was bleibt, sind die Kerben im Unterbewußtsein, die Eindrücke eines Theaterabends weniger aus dem Theater als aus der Manege. Bei Mouchtar-Samorai sitzen wir nicht mehr vor der Bühne, sondern darumherum. Und wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir in den Masken der Clowns und Artisten plötzlich unser eigenes Gesicht entdecken.

Luigi Pirandello: Heute wird improvisiert. Regie: David Mouchtar- Samorai. Bühne: Heinz Hauser. Mit Susanne Tremper, Marianne Hoika, Herbert Fritsch, Anne Weber u.a. Düsseldorfer Schauspielhaus. Nächste Aufführungen: 26. und 27.März; 1., 2., 4., 6. und 8.April.

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