Modell Hessen

■ Wenn Hessens Ministerpräsident Hans Eichel morgen in Wiesbaden ein Jahr rot-grüner Regierarbeit resümiert, schaut er zurück auf eine nahezu reibungslose Partnerschaft mit den Politprofis um Joschka Fischer

Ein Jahr rot-grüne Koalition — und noch immer hat sich kein Unternehmer über den Main nach Bayern absetzen müssen. Was die mächtige Industrie- und Handelskammer in Frankfurt/Main im Verein mit der CDU im Vorfeld der letzten Landtagswahlen in Hessen prophezeit hatte, ist nicht eingetreten: Das „rot-grüne Chaos“ blieb aus. Auch behauptete das Land in Sachen ökonomischer Potenz seinen Spitzenplatz im Vergleichskampf zwischen den Bundesländern. Und die von den Wirtschaftskapitänen gefürchteten, weil „wachstumsfeindlichen“ Grünen votieren heute in Stadt und Land — und fest im Bündnis mit der SPD — mehrheitlich für Frankfurt/Main als Standort für die europäische Zentralbank und segnen Hochhausprojekte der Banken ab. Das Land Hessen boomt auch unter der sozial-ökologischen Regierung weiter. Und der unumstrittene Star im Kabinett von Hans Eichel (SPD), Joschka Fischer (43), Minister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten (Grüne), ist inzwischen ein gern gesehener Gast in den Chefetagen der hessischen Unternehmen — sofern die nicht gerade mit der Produktion von Brennelementen, Atomstrom oder gentechnologisch hergestelltem Magermilchjoghurt befaßt sind.

Daß Fischer seinem Ministerpräsidenten ein Jahr lang in Wiesbaden und Bonn die Schau gestohlen hat, glauben nicht nur die Grünen im hessischen Landtag, deren Fraktionschef Rupert von Plottnitz (51) zum sogenannten mainischen Machtkartell bei den Grünen in Hessen gezählt wird. Die Schlüsselpositionen, vor allem in der Landtagsfraktion und im Umweltministerium, sind mit Mitgliedern des „Frankfurter Kreises“ besetzt. Und nur im Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit von Iris Blaul (Grüne) gehen die Uhren gelegentlich anders. Daß Fischer der „Zampano“ im Kabinett ist, haben auch die Karnevalsgesellschaften in Frankfurt begriffen. Die zogen zur „Fassenacht“ einen Motivwagen durch die Stadt, auf dem sich Eichel hinter dem breiten Kreuz von Fischer versteckte: „Joschka, geh voran!“ Aber eigentlich ist dem „Workaholic“ aus der Kulturmetropole Kassel die Rolle des stillen Sachbearbeiters geradezu auf den Leib geschrieben. Zu dem auch von der hessischen CDU geäußerten Vorwurf, er sei ein Jahr lang „abgetaucht“ gewesen, erklärte Eichel im Gespräch mit der taz, die entscheidende Frage sei schließlich, ob diese Regierung Erfolg habe oder nicht — „und diese Regierung hat Erfolg“. Die hessische Landesregierung arbeite sogar in einem Maße reibungslos, wie man das bei anderen Koalitionsregierungen und selbst bei Alleinregierungen nicht finde: „Und ich sorge dafür, daß es auch in Zukunft keine Reibungsverluste geben wird.“

In Hessen sind die Rollen klar verteilt: Solange Joschka Fischer auf Bonner und Wiesbadener Parkett in den Grenzen der Koalitionsvereinbarungen und der Bundes- und Landesgesetze vorturnt, ist für den Regierungschef auch die eigene Welt (noch) in Ordnung. Und solange Hans Eichel unauffällig, „aber erfolgreich“ (Eichel) den gesamten Laden zusammenhält und Kontakte bis hinein in die Landtagsfraktion der Grünen pflegt, braucht sich Doppelminister Fischer nicht ums Koalitionsklima zu kümmern. Im weltläufigen Frankfurt jedenfalls hat Eichel in grünen Sympathisantenkreisen, die ihn als „bebrillte Büroklammer“ schon in die Langeweilerecke gestellt hatten, Punkte gutgemacht: „Glaubwürdig“ komme er rüber, der Eichel, befand eine Kollegin aus der Generation der Alt-68er, die eigentlich mit Parteipolitik „nichts mehr am Hut“ zu haben glaubte.

Das innerparteiliche Klima zwischen SPD und Grünen kann, nach diesem ersten Jahr, nur als „gut bis sehr gut“ bezeichnet werden — was sich vom Binnenklima bei den Grünen nicht unbedingt behaupten läßt. Ausnahmen bestätigen die Regel: Ministerin Heide Pfarr (SPD) und Ministerin Iris Blaul (Grüne) sind sich auch nach einem Jahr noch immer nicht grün; die Grünen diagnostizieren bei Frauenministerin Pfarr eine „anhaltende Profilneurose“.

Politprofis: Lichtjahre von der Basis entfernt

Die zwangsläufig zu Politprofis avancierten Männer und Frauen um Joschka Fischer und Iris Blaul haben sich in diesem einen Jahr „Lichtjahre“ von ihrer Basis entfernt — die orientierungslos und schwankend zwischen Bewunderung für das reibungslos funktionierende Politmanagement in den grünen Ministerien und (noch) klammheimlicher Opposition gegen die „MacherInnen“ in Wiesbaden durch die Zeitgeschichte driftet. Was in Wiesbaden läuft, erfahren die Mitglieder der Partei nach der Einstampfung ihrer Parteizeitung heute aus den Tageszeitungen. Politik wird bei den Grünen in Hessen in den Zirkeln des „Frankfurter Kreises“ konzipiert — und in Wiesbaden an den Schaltstellen der Macht eingebracht und umgesetzt.

Doch mit dem professionellen Erscheinungsbild und den politischen Entscheidungen dieser rot-grünen Koalition, die als politische Konstellation gewollt und akzeptiert ist, können die auf die alten Glaubensgrundsätze der Partei — basisdemokratisch, gewaltfrei etc. — eingeschworenen Mitglieder vor allem in den ländlichen Regionen immer weniger anfangen. Auf ein „Stadt-Land-Gefälle“ aber will Landesgeschäftsführerin Margareta Wolf die „von der Parteispitze erkannten Divergenzen“ nicht reduzieren, denn auch in Frankfurt formiere sich in der Partei die Opposition zu den Metropolenfans um den Fraktionsgeschäftsführer Lutz Sikorski vom „Frankfurter Kreis“. Und die bieten, im Gegensatz zu vielen anderen, die Grünen als Partei des aufstrebenden Mittelstandes in einem der ökonomisch potentensten Bundesländer der Republik an — und nicht mehr als Sammelbecken unter die Räder der „großen Maschine“ (Bahro) gekommener Entrechteter oder überzeugter Umwelt- und Naturschützer.

Die Partei, so Margareta Wolf, habe ein „echtes Problem“ aufzuarbeiten: „Wir haben keine vordenkende Bundespartei mehr. Die Leute spüren, daß da ein Vakuum ist, und das frustriert natürlich.“ Deshalb müsse die Partei gerade in Hessen eigentlich dafür „dankbar“ sein, daß Leute wie Joschka Fischer dieses Vakuum zumindest in einigen Politikfeldern auszufüllen versuchten — auch wenn an der Basis die Kompromißentscheidungen der Koalition im vergangenen Jahr nicht immer verstanden worden seien. Und die SPD, so Wolf, sei eigentlich noch schlechter dran: „Die haben auch keine Bundespartei, sondern nur Einzelkämpfer. Und in Hessen haben die Sozis noch nicht einmal einen Fischer.“

Dafür leben die Sozialdemokraten als Regierungspartei, im Gegensatz zu den Grünen, von der quantitativen Substanz ihrer Ortsvereine. In den ohnehin ausgedünnten Reihen der Grünen auf kommunaler Ebene wirkten und wirken unpopuläre Entscheidungen der Landesregierung zusätzlich wie Sprengsätze. So haben die Grünen etwa im südhessischen Landkreis Groß-Gerau in diversen Kommunen große Probleme, noch Menschen zu finden, die bereit sind, auf den Kommunalwahllisten zu kandidieren, seit sich Joschka Fischer für den Bau eines dritten Giftmüllverbrennungsofens in der Gemeinde Biebesheim ausgesprochen hat. In Nordhessen hat die Landesregierung grüne Aktivisten und Bürgerinitiativler vergrätzt, die bislang vergeblich auf die in den Koalitionsvereinbarungen verabredeten Nachtfahrverbote für Lkw auf Bundesstraßen warten mußten. Diverse Flüchtlingshilfegruppen sind enttäuscht von der zwangsläufig an der Linie von Recht und Gesetz orientierten Asylpolitik von Sozialministerin Blaul (Grüne) und Innenminister Günther (SPD). Und selbst die Frauen von der Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser, die sich von „ihrer“ Ministerin auch finanzielle Unterstützung erhofft hatten, sind nach einem Jahr Rot-Grün sauer: „Selbstverständlich wissen wir, daß Wahlversprechen und reale Politik zwei völlig voneinander unabhängige Größen sind. Doch daß es mit einer grünen Ministerin so schwierig werden könnte, hätten wir nie geglaubt.“

„Das ist heute Realpolitik“

Fraktionschef von Plottnitz klagte auf der Kreisversammlung der wegen Biebesheim grummelnden Basis im Landkreis Groß-Gerau am letzten Freitag im Gegenzug die Erarbeitung eines neuen Politikverständnisses auch und gerade an der Basis ein. Die Partei habe noch nicht einmal ansatzweise auf die Herausforderungen reagiert, die mit dem vereinten Deutschland auch auf die Grünen zugekommen seien. Da habe eine „neue alte soziale Frage“ neue Bedeutung bekommen. „Und wir Kinder der Wohlstandsgesellschaft, die wir uns auf die Ökologie konzentriert haben, wissen keine Antworten.“ Die Grünen müßten weg von der irrational gewordenen Vorstellung, all ihre Herzensangelegenheiten („weg mit Auto, Giftmüll und allem anderen Bösen“) umgehend erledigen zu können. Von Plottnitz: „Zu akzeptieren, daß die Welt nicht von heute auf morgen zu heilen ist, daß sie vielleicht nur noch vor dem Kollaps bewahrt werden kann, daß Prioritäten neu gesetzt werden müssen und daß wir dafür einen langen Atem brauchen. Das ist heute Realpolitik.“