INTERVIEW: „Wer nachrüstet, ist mitschuldig am nächsten Unfall“
■ Michael Sailer, Reaktorsicherheitsexperte beim Darmstädter Öko-Institut, über alternative Energiesysteme
taz: Kann Rußland überhaupt auf die AKWs der RBMK-Reihe verzichten, und wenn — wann und auf wie viele?
Michael Sailer: Die RBMK-Anlagen sind höchstens mit acht Prozent der Stromlieferungen unter alten Bedingungen beteiligt, obwohl Rußland insgesamt elf solcher AKWs in Betrieb hat. Die Einsparung von Energieverschwendung, das Umstellen auf andere Kraftwerke und die Erstellung von modernen Kraftwerken wären Ansatzpunkte, die noch innerhalb dieses Jahres in Angriff genommen werden könnten. Insofern wäre ein Verzicht auf diese Reaktoren praktisch sofort möglich.
Praktisch sofort heißt in diesem Fall...
Praktisch sofort heißt: Wenn man morgen abschaltet, werden die Leute weder frieren noch verhungern. Man muß sich doch klar vor Augen führen, daß es hier eine Region betrifft, wo die Leute nicht im Pelzmantel auf der Straße, sondern in 25 Grad warmen Wohnungen leben. Was total überflüssig ist, das tun wir hier schließlich auch nicht.
Nun heißt es, daß diese Reaktoren um St. Petersburg 50 Prozent der Stromversorgung garantieren. Wie kann man die denn auf die schnelle ersetzen?
Das ist genauso eine falsche Argumentation, wie wenn man hier in Deutschland behaupten würde, Biblis versorge ganz Südhessen mit Strom. In Wirklichkeit gibt es in der ehemaligen Sowjetunion ein Hochspannungs-Verbundnetz wie in Westeuropa auch. Eine solche Behauptung ist also Quatsch.
Was würde die schnelle Einrichtung von Gas- Dampf-Kraftwerken bei St. Petersburg kosten, in der Größenordnung, die dort gebraucht wird?
Für die die dort notwendige 4.000-Megawatt- Leistung: fünf Milliarden Mark.
Und in welcher Zeit ließen sich solche Neu- Anlagen erstellen?
In zwei Jahren, wenn durchgehend gebaut würde. Die Anlage würde ja nicht aus einem 4.000-MW-Block bestehen, sondern aus vielen kleinen. Einige davon wären also noch früher fertig. In zwei Jahren schließlich wäre ein solches Kraftwerk betriebsfähig.
Weshalb wird denn in der Richtung nichts unternommen?
Dafür gibt es zwei Hauptgründe, einmal im Westen, einmal im Osten. Der Hauptgrund im Westen ist der, daß Siemens, die französische Atomindustrie und der US-Elektrokonzern Westinghouse dabei sind, Pleite zu machen, weil sie in ihren eigenen Ländern nichts mehr losschlagen können. Die sind also jetzt ganz einfach darauf angewiesen, schleunigst Aufträge aus dem Osten zu bekommen. Also machen die jetzt im Westen Propaganda, wie schlimm die Ostreaktoren sind und daß es Hilfsgelder geben muß für den Osten — die am Ende dann in die Kassen von Siemens und Westingshouse fließen. Der Grund im Osten ist der, daß dort die alten KP-Kader sitzen, und zwar vor allem in der Elektrizitätsversorgung. Da sitzen genau jene ideologischen Betonköpfe, die dort die ganzen Jahre gesessen haben. Sie sind es, die sagen: Wir brauchen die Kernenergie, egal was los ist. Und wenn man mit diesen Leuten über vernünftige Energiesysteme redet — was unser Institut wie auch andere gemacht haben —, zeigt sich, daß die Kader technisch einfach nicht in der Lage sind, mitzuhalten. Sie sind einfach technisch nicht dazu in der Lage.
Adolf Hüttl vom Siemens-Vorstand, der einer der Interessierten wäre, sagt aber auch, die RBMK-Reaktoren kann man nicht nachrüsten, und da wollen sie auch eigentlich nicht ran...
Vor zwei Wochen hätten sie sicherlich noch mal drangewollt. Für Siemens ist es immer das Problem, wie groß die Rufschädigung ist, wenn doch was schiefgeht. Immerhin hat Adolf Hüttl einen Nachrüstungsvertrag mit dem slowakischen AKW Mochovce abgeschlossen, das erst in zwei Jahren in Betrieb gehen soll, und das ist vom Typ Greifswald 5. Da, wo es gerade nicht auffällt, wird Vertrag gemacht, und wo es eben doch auffällt, sagt man: nicht nachrüstbar.
Wie ist es denn mit der Umstellung der russischen Energieversorgung?
Ein sofortiges Energiesparprogramm setzt voraus, daß man einerseits den Verbrauch und die Versorgung analysiert und dann die überflüssigen Verbraucher rauswirft. Das geht, weil überall das Know-how dafür vorhanden ist. Zweitens, daß man sehr schnell Aufklärung betreibt: Hier ist bewußtseinsmäßig und technisch noch einiges verbesserungswürdig, denn man kann dem Osten nicht helfen, wenn es in diesem Stil weitergeht. Außerdem sollte man möglichst schnell den Kraftwerkspark umstellen auf vernünftige Strukturen.
Was können denn die deutsche Regierung oder die EG tun, oder was tun sie jetzt?
Derzeit bezahlt sowohl die deutsche Regierung als auch die EG Geld in die Nachrüstung von Kernkraftwerken im Osten. Sehr viel Geld, und wenn man nicht aufpaßt, noch mehr Geld. Damit blockieren sie alle Mittel für die Aufklärung und für die Umstellung des Energiesystems. Richtiger wäre, keine Mark mehr in die Nachrüstung zu stecken, sondern die Finanzmittel, die da sind, auf die Umstellung zu verwenden. Alles andere bedeutet Mitschuld am nächsten Reaktorunfall in der Region. Interview: Hermann-Josef Tenhagen
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