: Offener Brief
Sehr geehrte Frau Senatorin,
Mit Verlaub; Ihr Vorschlag am Potsdamer Platz, inmitten der „Glas- und Marmorarkaden von Sony und Daimler Benz“, wie Sie es in Ihrem Beitrag in der taz vom 16.3.92 umschrieben, eine Tagesstätte für Wohnungslose einzurichten, erscheint uns gelinde ausgedrückt als zynisch! Heißt dies doch nur das Elend verstecken, damit die Bürgersteige vor den Palästen nicht durch Arme und Obdachlose belagert werden. Dies teilten wir schon Ihrem Staatssekretär Armin Tschöpe auf der Fachtagung „Der Skandal der Obdachlosigkeit“ am Kleinen Wannsee vom 27.2.92 bis 28.2.92 mit.
Dies in Anbetracht der Tatsache daß Pfarrer Ritzowsky von der Heilig-Kreuz-Gemeinde in einem bemerkenswerten Beitrag zur Situation Wohnungsloser in Berlin von „Sterbebegleitung“ als mittlerweile Grundbegriff unserer derzeitigen Arbeit sprach und mit dieser Begrifflichkeit sehr treffend das Elend und die Aussichtslosigkeit beschrieb in der sich in zunehmenden Maße die Menschen befinden, die zu uns kommen. Die Errichtung einer Tagesstätte für Wohnungslose am Potsdamer Platz kann von uns, die seit Jahren mit dieser Problematik beschäftigt sind, nur als blanker Hohn und Verdrehung, ja als Pervertierung der Ziele unserer Arbeit wahrgenommen werden.
Natürlich muß in der Regierungssitz- und womöglich auch noch Olympiastadtplanung auch die soziale Komponente mitberücksichtigt werden. Wobei doch allen klar ist, daß die sozialen Konsequenzen aus diesen beiden Entscheidungen für die „weniger betuchten“ EinwohnerInnen der Stadt verheerend sein werden und auch noch nicht mal mehr sozial abgefedert werden können.
Trotz allem; Fehler wie sie bei der Konzeptionierung des Märkischen Viertels und der Gropiusstadt gemacht worden sind, eine Stadt ohne soziale Infrastruktur am Reißbrett zu planen, dürfen sich nicht wiederholen.
Schon jetzt an die Attraktivität des Potsdamer Platzes nicht nur für das junge Management, sondern auch für Arme und Wohnungslose zu denken, ist allerdings genau das was Sie zu Eingang Ihres Beitrages ablehnten, nämlich „Sozialpolitik, die sich im Knüpfen und Flicken“ des sozialen Netzes erschöpft. Im Grunde genommen stimmen wir mit Ihrer Eingangsthese überein. Nur eine Stadt, die schon jetzt ca. 30.000 Wohnungslose aufweist, erscheint uns eines Regierungssitzes nicht würdig.
Auch eine Wärmestube am Potsdamer Platz ist für die sich anbahnende Problematik noch nicht mal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. „Ganze Bevölkerungsgruppen drohen in dieser Umwälzung unterzugehen“, schreiben Sie.
Auf der o.g. Fachtagung stellten wir fest, das dies nicht nur droht, sondern schon längst zu gange ist!
In diesem Sinne möchten wir eindringlichst auf die von allen TeilnehmerInnen verabschiedete Resolution verweisen, in der
1. darauf hingewiesen wird, daß die Verdrängung z.B. des angestammten Kleingewerbs in den einzelnen Stadtbezirken nur der Verbote einer fast vollständigen Umstrukturierung der Bevölkerung zu Gunsten einer reicheren Einwohnerschaft ist.
2. Die Wiedereinführung der Mietpreisbindung ein um so notwendigerer Schritt in die richtige Richtung bedeuten würde. (siehe Schreiben der TeilnehmerInnen der Fachtagung vom 28.2.92)
Sie schreiben sehr richtig: „Schon jetzt ist der Wohnraum knapp...“ Wir wissen, daß Wohnraum nicht erst seit Öffnung der Mauer hier in der Stadt eine „heiße Ware“ ist, daß in der Konsequenz all diejenigen, die nicht über das notwendige Durchsetzungsvermögen verfügen in den zum Teil physischen, auf alle Fälle psychischen Tod getrieben werden. So lobenswert wie die endlich einsetzende Diskussion um die stattfindende Umstrukturierung ganzer Bevölkerungsteile und deren Konsequenzen für eine hiergegen notwendige Sozialpolitik auch immer sein mag, erscheint uns doch das derzeitige Bemühen eingebettet in die alte Metapher des Kaninchens vor der Schlange. Wobei das Kaninchen Berlin sich nur noch darüber Gedanken machen kann, was denn Realität sein könnte, wenn es gefressen worden ist. [...]
Wir verweisen hiermit nochmals eindringlich auf die von uns anläßlich der Fachtagung aufgestellten Forderungen und erwarten aus Ihrem Hause Initiativen nicht nur im planerischen Sinne die richtungsweisende Schritte einleiten und das ermöglichen, was auch in Ihrem Hause als dringend notwendig erachtet wird.
In diesem Sinne können Sie mit unserer Unterstützung in Planung und Umsetzung rechnen.
Wir möchten Ihren Beitrag als Anstoß verstanden wissen, daß Sozialpolitik in dem Gesamtkontext Stadtplanung für die Berliner Bevölkerung die Wertigkeit erhält, die sie braucht und verdient. Gert Levy, Die Plattengruppe, Jürgen Putze, Manuel Rodriguez (Tagesstätte Wassertor), Dorotea Simon-Zeiske (Bera. Levetzowstr.)
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