DEBATTTE
: Die neue Sachlichkeit

■ Die IG Metall bittet um Zeit und Verständnis, um einen Fall sexueller Belästigung aufzuklären — sonst würden nur Emotionen geschürt

Die IG Metall hat — laut taz — einen Fall von sexueller Belästigung in ihren eigenen Reihen. Ausgerechnet die IG Metall! Niemand war dabei, als „es“ geschah. Aber viele regen sich auf. Zu Recht? Ich bin froh, daß viele sich aufregen. Es dürften sogar mehr sein. Seriöse Umfragen sagen aus, daß mehr als 90 Prozent aller berufstätigen Frauen schon einmal sexuell belästigt worden sind, mehr als 70 Prozent sogar mehrfach. Das ist ja wohl Grund genug zum Aufregen. Nimmt man allerdings den aktuellen Anlaß einmal aus, dann hielt sich die Aufregung bisher leider in Grenzen. So bitter diese Feststellung für die Beteiligten in unserer Berliner Verwaltungsstelle klingen mag: Wenn dieser „Fall“ dazu führt, daß endlich dieses Thema offensiv — und meinetwegen auch aggressiv — diskutiert wird, dann hatte er sogar sein Gutes.

Die IG Metall war meines Wissens die erste Organisation überhaupt, die vor ein paar Jahren sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz zum Diskussionsgegenstand gemacht hat — und zwar nicht nur in Frauenversammlungen. Es war und es ist verdammt schwer, ein Thema sachlich anzupacken, das zu allen Zeiten unterdrückt wurde, das von vielen als Problem beharrlich geleugnet oder zumindest nicht erkannt wird und bei dem so viele Verklemmungen und persönliche Probleme mitschwingen. Und nun ein Fall in den eigenen Reihen?

Ich finde es logisch, wenn eine Organisation wie die IG Metall an ihren eigenen Wertvorstellungen gemessen wird. Ich bitte aber um Verständnis dafür, daß auch die IG Metall Zeit braucht, bis ein von Vorstand und Gewerkschaftstag vorgegebenes Ziel erreicht ist. Die IG Metall ist nämlich nicht nur eine Gemeinschaft von 3,6 Millionen Mitgliedern, sie ist auch ein Betrieb — und zwar mit mehr als 3.000 Beschäftigten kein kleiner. Ihre Beschäftigten sind keine Engel, sondern ganz normale Menschen — und zwar vom Pförtner bis zum zweiten Vorsitzenden. (Und der erste? Ist der heilig? d. s.)

Im Laufe der Jahre hat es bei der IG Metall Diebstähle gegeben, Betrügereien, sogar einen Spionagefall. Auch Fälle von sexueller Belästigung hat es vermutlich in der IG Metall schon gegeben. Sie sind nur nicht bekanntgeworden. Und vermutlich wird der Berliner Fall — von dem wir immer noch nicht wissen, ob es überhaupt ein „Fall“ war — nicht der letzte gewesen sein.

Nach einer feucht-fröhlichen Feier...

Ich denke, man wird der IG Metall nicht vorwerfen können, daß bei ihr „so etwas“ geschah, aber man wird sie fragen dürfen, wie sie damit umgeht. Und weil die IG Metall es war, die dieses Thema überhaupt erst zu einem öffentlichen gemacht hat, geschieht es ihr ganz recht, daß sie jetzt mit einer Wirklichkeit konfrontiert wird, die leider nicht immer so klar ist wie die abstrakte Beschlußlage.

Nach einer feucht-fröhlichen Feier zogen die Beteiligten in ein Lokal, saßen schmusend beieinander und verließen später Hand in Hand die Kneipe. Soweit ist alles unstrittig. Dann teilen sich die Angaben: Sie sagt, er habe sie gewürgt und Sex erzwungen. Er sagt, das sei gelogen. Zeugen gibt es nicht und wird es in ähnlichen Fällen ganz oft nicht geben. Was also macht der Arbeitgeber, dem dieses vorgetragen wird?

Er ist weder Detektiv noch Hellseher. Er muß die möglicherweise belästigte Frau vor weiteren Zumutungen schützen. Er muß den möglicherweise zu Unrecht beschuldigten Mann vor Anfeindungen schützen. Ist die Firma groß genug, wird er einen oder beide (besser beide!) in verschiedene Abteilungen versetzen, vielleicht beide beurlauben. Selbstverständlich wird er wegen weiterer Konsequenzen auf das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen warten.

In Berlin gab es aber monatelang keine Ermittlungen, weil die Frau keine Anzeige erstatten wollte. Ich kann das auch verstehen. Nicht jeder kann sich ungeniert und ohne Scham über sexuelle Vorgänge frei äußern, gar noch in Verhören, vielleicht durchgeführt von Männern. Glaubt allerdings der Arbeitgeber ohne polizeiliche Untersuchung der Frau und kündigt als Folge dem Mann — wie es in Berlin verlangt wurde —, dann verliert er prompt jeden Kündigungsschutzprozeß, in dem die Frau obendrein mit hoher Wahrscheinlichkeit als Zeugin aussagen müßte— in aller Öffentlichkeit!

Der Arbeitgeber darf auch mit den Interessen des Mannes nicht leichtfertig umgehen. Der hat Anspruch darauf, vor ungerechtfertigten Anschuldigungen anderer Beschäftigter in Schutz genommen zu werden. Die „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ verlangt, daß niemand als schuldig bezeichnet werden darf, solange er nicht von einem Gericht rechtskräftig verurteilt worden ist. Gewerkschafter haben jahrzehntelang für diese Menschenrechte gestritten, gekämpft, geblutet und längst noch nicht überall auf der Welt gesiegt. Eines dieser elementaren Menschenrechte sollen wir jetzt im eigenen Hause verletzen?

Wer von der IG Metall jetzt eine Verdachtskündigung verlangt, muß wissen, daß er einen Berufungsfall für Unternehmer schafft, auch wenn sie aus völlig anderen Gründen einen mißliebigen Arbeitnehmer loswerden wollen. Auch Sybille Plogstedt irrt in diesem Punkt in ihrem — wie ich finde — sonst sehr klugen taz-Interview: Zwar führen Diebstahl oder Schlägerei im Betrieb oft zu fristlosen Kündigungen, aber dann ist immer der Tatbestand unzweideutig klar. Dann handelt es sich nicht um eine Verdachtskündigung.

Wer an diesem Punkt eine Bilanz zieht, stellt fest, daß Frauen bei sexueller Belästigung schlechte Karten haben. Meine Phantasie reicht auch völlig aus, um mir vorzustellen, wie Vorgesetzte grinsend und unter Hinweis auf die Rechtslage — „leider, leider“ — eine beschwerdeführende Frau abblitzen lassen. Irgendwo muß es ja herkommen, daß nur in 0,4 Prozent aller Fälle Belästigern gekündigt wird. Gleichwohl habe ich an meine Gewerkschaft und an uns alle den Anspruch, daß wir rechtsstaatliche Mittel und Wege finden, um sexuelle Belästigung zu bekämpfen und zu ahnden — und zwar unter Beachtung der schwierigen Lage der Betroffenen.

Betriebs-Beauftragte — für Frauen

Die IG Metall hat ganz brauchbare Erfahrungen auf einem anderen Gebiet gesammelt, bei Alkohol am Arbeitsplatz, ebenfalls ein Tabuthema. Suchtbeauftragte im Betrieb haben sich als geeignetes Instrument erwiesen, weil sie mit dem Thema diskret, aber doch bestimmt umgehen können, und weil die Betroffenen ihnen vertrauen. Vielleicht ist das auch ein Weg bei sexueller Belästigung. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, daß eine verängstigte Frau sich einer in diesem Bereich erfahrenen Frau eher anvertraut.

Vielleicht müssen wir auch Frauen im Umgang mit diesem Thema schulen, damit sie lernen, sich zur Wehr zu setzen. Die Enttabuisierung ist an sich schon ein Beitrag der IG Metall zum Sich-wehren- können. Ob ein Gesetz wirklich weiterhilft, bezweifle ich. Aber ganz sicherlich wären „Check-Listen“ zum Verhalten in solchen Konfliktfällen sehr hilfreich, denn manchmal ist das Vertuschen-wollen oder das schroffe Zurückweisen einer Beschwerde auch nur Ausdruck der eigenen Unbeholfenheit des Vorgesetzten. Dies alles sollte diskutiert werden, in der taz und anderswo.

Wenn ein Thema so sehr „vorbelastet“ ist, dann ist es allerdings abwegig zu glauben, daß es emotionsfrei diskutiert werden kann. Was sich jahrzehntelang nicht äußern durfte, äußert sich jetzt nicht unterkühlt in rechtswissenschaftlichen Seminaren, sondern logischerweise voller Eruptionen und Irritationen. Aufgabe der IG Metall kann es sein, auch ein verständlicherweise so stark emotionsgeladenes Thema zu versachlichen, es so zu diskutieren, daß daraus nicht nur Beschimpfungen und Verdächtigungen entstehen, sondern Handlungsanleitungen.

Aufregen allein reicht nämlich nicht, hat zumindest den Gewerkschaften noch nie gereicht. Denn Gewerkschaften wollen Verhältnisse nicht nur lautstark beschreiben, sondern ändern. Jörg Barczynski

Der Autor ist Pressesprecher des IG-Metall- Vorstandes, Frankfurt/M.; zum „Fall“ erschien ein taz-Tagesthema am 5.3. 92.