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Der erbarmungslose Friedensstifter

Der Kanzlerkandidat der SPD, Björn Engholm, macht Wahlkampf in Schleswig-Holstein  ■ VON BASCHA MIKA

„Und ihm beliebt es,

falsch zu schließen,

Es könne wohl zusammengehn

Und sei recht wünschenswert

und schön:

Regieren und zugleich genießen“

(Goethe, Faust II)

Björn Engholm lacht nicht, er lächelt. Fein, manchmal nur mit einem Mundwinkel. Noch nachts um zwölf, beim Wein mit den GenossInnen, bleibt seine Jacke an, der Kragenknopf zu, der Schlips gebunden. Bis er von Königin Margrete und ihrem Landsmann Niels-Henning Pedersen erzählt. Die dänische Regentin kommt zu Besuch nach Kiel, und der Jazzer wird zu ihrem Empfang spielen. Der Landesvater von Schleswig-Holstein fängt an zu schwärmen, von dem berühmten Bassisten und seiner Musik. Weit wirft er den Oberkörper nach vorne, die Hände rupfen an einem imaginären Baß, das Gesicht verzieht sich verzückt.

Da will einer, scheint's, aus dem Anzug springen. Doch ach, er hat ihn sich zu gut angepaßt.

Der Ministerpräsident reist durch das Land und macht Wahlkampf. In Mehrzweckhallen philosophiert er über seine Amtszeit. Die Sätze so adrett, die Kleidung so korrekt, die Haltung so aufrecht. Viel ist von „Anstand“ die Rede, von „Zukunft“ und „Zusammenarbeit“. Wenn Engholm von seiner Vernunft öffentlich Gebrauch macht, die Welt ordnet nach Maß und Struktur, erstrahlt sie in bereinigtem Glanze. Die finsteren Schizophrenien des Daseins verflüchtigen sich in unappetitliche Weiten. Sie fechten diesen Verkünder der einfachen Wahrheiten, diesen Helden der Aufklärung gar nicht erst an.

Der Mann, der auszog, die Kieler „Schweinebucht“ zu säubern, tut bescheiden: „46 Monate sind wir im Amt. Wir haben noch nicht alles richtig gemacht. Deshalb müssen wir vier weitere Jahre regieren.“ Die Sozis im Saal muß der Redner nicht überzeugen. Mit Respekt schauen sie ihn an und ein bißchen scheu. Nur wenige trauen sich, den Genossen mit „Du“ anzureden. Das wäre ja, als wolle man ihm an die scharfgebügelte Wäsche gehn.

Wenn er so auf dem Podium sitzt, alle Blicke für seine Notizen und keinen fürs Publikum hat, wirkt er wie ein Steuermann in einsamer Nacht, abgekapselt hinter verdrossenen Falten. Kaum angesprochen, ändert sich das sofort. Wachsam blickt er von schräg unten aus seinem Gehäuse, wie ein neugieriger Einsiedlerkrebs.

Reden andere, dann nickt der Ministerpräsident — auch, wenn es gar nichts zu nicken gibt. Was auf den ersten Blick Zustimmung suggeriert, ist nur ein Zeichen der Aufmerksamkeit. Dieser thearapeutische Gestus hat dem 52jährigen flugs den Ruf der sozialen Kompetenz eingebracht. Die soll helfen, die Sozialdemokratie von ihrem Ungeist zu befreien: von der in Beton gegossenen Hierarchie, der Sterilität in den Köpfen, der Dauerparalyse.

In einer Gesellschaft, die auseinanderfällt „wie ein fauler Fisch“, will der Vorsitzende die alte Arbeiterbewegung und die neuen sozialen Gruppierungen versöhnt in eine sozialdemokratische Zukunft führen. Darauf warten die Parteisoldaten in der Bonner Baracke schon lange — wenn auch mit borstigem Widerstand. Sie bewundern den Politikstil, den Engholm im Norden pflegt und trauen ihm zu, daß er es „auch in Bonn schaffen könnte“. Aber bisher „hat er nur Erwartungen geweckt, die noch nicht eingelöst wurden“. Wenn er bis Ende April das Parteiheft nicht in die Hand nimmt, unken sie, werden die Vorschußlorbeeren endgültig vertrocknet sein. Dann würde es „schwierig“.

Wie er diese Schwierigkeit meistern soll, weiß der Hoffnungsträger nach zehn Monaten Grätsche zwischen Bonn und Kiel immer noch nicht. Wird er gefragt, schürzt er den Mund, als wolle er wieder: „Wat mutt...“ sagen. Eine „Utopie“, brauche man, meint er dann, und „Grundwerte“. Die des Sozialismus „sind ja nicht kaputt“. Auch die Kirche sei als werterhaltende Institution nicht zu verachten. Aber diese wohlfeilen Visionen reichen wohl selbst einem sozialdemokratischen Geiste nicht, um neu beseelt zu werden. Selbst dem „faulen Fisch“ kann der Lübecker noch etwas abgewinnen. „In Vietnam“, erzählt er, „ißt man eine köstliche Soße aus faulendem Fisch, Nuoc Mam.“ So erfahren wir vom ehemaligen Bildungsminister, daß auch beim Auseinanderfallen etwas Wichtiges übrigbleibt.

Auf den Bühnen der nördlichen Kleinstädte wird der Aufklärer Engholm zum Volkspädagogen. Und der schreckt vor nichts zurück, damit die Leute was lernen. Schließlich hat er selbst die Schule abgebrochen und die Segnungen der Bildung auf Umwegen erfahren. Zwischen Verkehrspolitik und Finanzhaushalt erläutert er den Begriff der Ästhetik. „Ästhetik“, so das Nordlicht eigenwillig, sei alles, was „wir mit unseren Sinnen aufnehmen“. Diese umfassende Interpretation scheint in Ratzeburg gut anzukommen.

Im Nortorfer Kneipensaal krabbelt er bis in die Küchenschränke seiner ZuhörerInnen, wo er zig verschiedene Putzmittel findet: für die „Dielen“, für die „Fenster“, für den „Herd“. „Die brauchen wir doch so gar nicht“, tadelt er sanft. Schmierseife tut's doch auch. Und wieder ist dem Volk ein Beispiel in praktischer Ökologie gegeben.

„Ich bin nicht der ganz große Theorie-Crack“, schätzt der ehemalige Schriftsetzer Engholm, „auch nicht der große Praxis-Crack. Aber ich bin offensichtlich einer, von dem die Leute sagen: So ungefähr soll ein Politiker sein.“ Das „ungefähr“ kommt bei ihm nicht von ungefähr. So nah der Landespolitiker seine Nase überall dran hat — von der Gülleverordnung bis zu den Zeugnisnoten der Drittkläßler — so weit streckt er sie als Bundespolitiker in deklamatorischen Nebel. Da ringt er — „mit großem Ernst“ natürlich — um die „Fragen der Zukunft“. Was es zu erringen gilt, bleibt uns verborgen. Da schreibt er: „Gleichrangig neben dem Prinzip der freien Marktwirtschaft und neben dem Sozialstaatsprinzip muß ein Naturschutzprinzip stehen.“ Prima! Jetzt muß er uns nur noch verraten, wie dieses Prinzip sich handelnd bewähren soll.

Politiker sein übt er schon reichlich lange. Seit dreißig Jahren treibt ihn die Politik um, seit über zwanzig Jahren berufsmäßig. Als er sich mit 23 den Jusos anschloß, hatte er den Rausschmiß aus einem Lübecker Gymnasium — „weil ich geschwänzt hab' und kein guter Schüler war“ — und eine Lehre bereits hinter sich. Er bildete sich fort, studierte Politik, Volkswirtschaft und Soziologie. 1965 wurde er Vositzender der Lübecker Jungsozialisten.

Ein „sehr kämpferischer Linker“ war „unser Björni“ damals, erzählt eine ehemalige Genossin. Die Jugend müsse radikal links sein, hat Engholm einmal gesagt, damit dann im mittleren Alter die richtige ausgeglichene Position rauskomme.

Wie bei ihm. So diskursiv-moderat ist er — „gelassen“ würden seine Freunde sagen —, daß er am liebsten alle und alles an einen Runden Tisch bringen möchte: in Schleswig-Holstein die Unternehmen und die Gewerkschaften, im Bonner Flachbau die Sozialdemokraten alten und neuen Typs, auf Bundesebene Regierung und Opposition, um den Pleitegeier von den Staatsfinanzen fernzuhalten.

Gab es bisher ein entschlossenes „Jein“ der SPD zur Politik der christlich-liberalen Koalition, probt Engholm Regierungsfähigkeit durch Anpassung. Vor allem, wenn es um die Zukunft Ost-West-Deutschlands und Europas geht, wie jüngst bei den Verträgen von Maastricht. Weder dem Dialog noch Regierungsbeschlüssen will er sich verweigern. Schließlich ist schon der Kollege Lafontaine durch Defätismus gescheitert.

Das wird dem neuen Aspiranten so nicht passieren. Wo Lafontaine polarisiert, integriert Engholm. Wo der Saarländer Ideen produziert, produziert der Norddeutsche Verständnis. Wenn der egozentrische Lafontaine die Kosten der Einheit oder Europas vorrechnet, provoziert er Abwehr — selbst in der eigenen Partei. Wenn der vermittelnde Engholm zwei Wochen vor der Wahl den Haushalt um Millionen zusammenstreicht, gucken seine Holsteiner in ihr Portemonnaie und denken: „Tatsächlich, wir müssen sparen.“ „Gewinnen als therapeutischer Prozeß“, hat Engholms Finanzministerin Simonis diese Methode genannt. Die Wahrheit wird dem Patienten präsentiert — aber nicht in so großen Brocken, daß sie die Kaumuskeln lähmt, sondern in mundgerechten Happen — und schon braucht er sie nur noch zu schlucken.

Engholm ist einer, hört man in Schleswig-Holstein, der nichts verspricht und den die Leute trotzdem wählen. Wenn es so ist, ist es auch für die Bundestagswahl 1994 nicht zu verachten, bei der es nichts zu verteilen geben wird.

Der teamorientierte, antiautoritäre Stil des obersten Sozis ist zum Markenzeichen geworden. „Effiziente Nicht-Führerschaft“ heißt das beim Kieler Fraktionschef Gert Börnsen. Damit hält der Landeschef sein Kabinett nicht nur zusammen, sondern auch noch bei Laune. „Björn bleibt ruhig“, berichtet Heide Simonis anerkennend, „wo ich schon längst wie ein Hubschrauber unter der Decke hänge.“ „Ich ärger mich manchmal schwarz“, gibt der Gelobte zwar überraschend zu, aber sichtbar wird das nicht. Mit gnadenloser Vernunft wird die Realität sofort der Kontrolle unterworfen: analysiert, kategorisiert, auf ihren Platz verwiesen, „denn mit Rumbrüllen kann man doch nicht Politik machen.“ Nach außen bleibt ein geräuschloser Politik-Moderator, ein vorsichtiger, leicht angespannter und wohltemperierter Mensch, der sich mit Liebenswürdigkeit die Leute vom Leib hält. Nur um den Mund zeigen sich scharfe Falten, benjaminsche „Falten des Verzichts“. Und in den Augen ab und zu eine Ahnung, wie das Leben sein könnte, ohne Korsett aus protestantischem Ehrgeiz und Pflichtgefühl.

Gern kokettieren die Sozialdemokraten mit diesem Enkel Willi Brandts als Poltiker neuen Stils. Doch nur, um ihn dann ständig vorzuführen als einen, der das Geschäft nicht begriffen hat. So fasziniert sind sie vom Machtgehabe der alten Politmachos, vom autoritären Führungsstil, daß sie Gegenentwürfen nicht trauen. Schon gar nicht können sie glauben, daß so einer Kanzler werden kann. Sie sollten sich ihren Kandidaten gründlicher ansehen. Das ist einer, der seine Sache rüberbringt; wo Kohl es mit Populismus schafft, schafft es Engholm mit Volkspädagogik. Der Pfälzer überredet mit verdrehter Wirklichkeit; der Lübecker vereinfacht die Wahrheit, bis sie jeden überzeugt. Wenn Kohl sich in volkstümelnde Phrasen flüchtet, rettet sich Engholm in humanistische Floskeln. Beide scheuen sich nicht, die ganze Schwere deutschen Dichter- und Denkergeistes zu bemühen, der eine mit pathetischem Gestus, der andere mit aufklärerischer Pose.

Für welche Politik steht Engholm, fragt man sich zweifelnd bei dem Kandidaten. Bei dem Kanzler fragt man danach resigniert schon lange nicht mehr. Die Christdemokraten beginnen diese Gefahr zu erkennen. Deutlich spricht sie der CDUler aus, der ständig mit Engholm zu tun hat: „Ich würde immer meine Partei davor warnen, ihn zu unterschätzen“, sagt der schleswig-holsteinische Fraktionschef Klaus Kribben.

Seit Engholm im Streit um die Zustimmung zu den Maastrichter Verträgen Lafontaine zurückgepfiffen hat, ahnen selbst die Sozis, daß er genügend Machtgespür und Härte hat, was sie mit „Führungsqualität“ übersetzen. Sicher, Lafontaine ist der brillantere Kopf. Doch seit wann wählen sich die Deutschen brillante Köpfe an die Spitze ihrer Regierung?

Ratzeburg, Burgtheater. Eine Bürgerinitiative steht Spalier und wartet auf den Wahlkämpfer Björn Engholm. „Raus mit der Bundesstraße 208“ rufen sie ihm entgegen. „Hoffentlich redet er mit ihnen“, betet leise eine SPD-Ordnerin. Allein tritt Engholm zwischen die DemonstrantInnen. Das Licht vom Eingang des Theaters erhellt gefällig die Figur. Lässig bleibt er stehen, Standbein, Spielbein, die Hand mit dem brennenden Zigarillo nach oben abgewinkelt. Ein Lächeln, er nickt, leicht nach links, leicht nach rechts. Und dann geht er, erhobenen Hauptes, zu den AnhängerInnen im Saale. Kein schlechter Auftritt für einen Politiker. Cary Grant, der eine Horde von Gangstern mit einem smarten „Guten Abend, meine Herren“ begrüßt, hätte es nicht besser gekonnt.

„Ich inszeniere mich nicht! Das wäre zu anstrengend“, sagt der Kanzlerkandidat gereizt und fühlt sich als Opfer von Reproduktionen. Die Grünen-Frauen im Lande glauben ihm: „Er spielt nicht, dazu hat er zu wenig Substanz.“

Das größte Plus des obersten SPDlers sind seine „hohen Sympathiewerte“. Daß er als gutaussehender Mann gilt, schadet nicht gerade. Dabei ist an seinem Gesicht nichts eigentlich schön: weder die leicht vorstehenden Augen noch die vorn abgeplattete Nase, oder der Mund, den er wie J.R. verziehen kann. Aber der Gesamteindruck stimmt, wie immer bei diesem Mann.

„Er ist ein Softi, der seine Ministerinnen für sich arbeiten läßt“, ziehen die Grünen-Frauen in Schleswig-Holstein über ihn her. „Ja und“, kontert Finanzministerin Simonis, „wenn er es geschafft hat, mein protestantisches Arbeitsethos zu aktivieren, spricht das nur für ihn.“

„Softi?“ fragt Engholm. Schwere Runzeln zieren die Stirn des Ehemanns und Vaters. Dieses Etikett paßt ihm sichtlich nicht. Daß seine Ministerinnen viel arbeiten, ist was anderes. „Dazu sind sie ja da“, bemerkt der Antreiber lapidar. Schließlich kommt er selbst auf 100 Stunden die Woche. Von wegen Toskana-Fraktion. Träumen darf schließlich jeder mal. Vielleicht sollte er es nur nicht laut tun, wenn er Politiker ist.

Zieht sich der Sozi nach einem Auftritt ungeniert seine halblange Lederjacke über den Anzug — was ähnlich schick ist wie ein Schuß Ketchup auf einem GÛteaux de foies — ist auch ein anderer Mythos dahin. Nix Schicki-Micki in englischem Garn und italienischem Leder. Eitel ist er zwar und penibel. Aber für Einkäufe bleibt oft nur Zeit zwischen zwei Terminen in irgendeinem Laden, den sein persönlicher Referent ausbaldowert hat. „Björn“, weiß Frauenministerin Böhrk, „trägt halb so teure Anzüge wie die Männer um ihn herum. Nur sieht er doppelt so gut darin aus.“

„Können Sie uns ein paar aufmunternde Worte zu Lafontaine und Klose sagen?“ wird der Wahlkämpfer beim Auftritt in Niebüll gefragt. Engholm greift sich an den Schlips, der eine Mundwinkel zieht sich zum Lächeln nach oben. „Ich könnte jetzt einfach mit Ja antworten“, entgegnet der erbarmungslose Friedensstifter. Aber dann lächelt auch noch der andere Mundwinkel, und die Antwort wird länger. „Die SPD“, erläutert ihr Vorsitzender, „ist nach dem Generationenwechsel wie ein Auto, das erst eingefahren werden muß.“ Und weil ihm und den ZuhörerInnen das Bild gefällt, setzt er noch eins drauf: Lafontaine, Klose und er seien „wie ein Dreikolben-Wankelmotor“. Der hätte schließlich auch nicht sofort funktioniert.

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