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Die Realität war mehr als Anlaß

■ Am 19. März starb René König, die herausragende Gestalt der deutschen Nachkriegssoziologie. Ein Nachruf von Erhard Stölting

Es gab drei soziologische Zentren im Deutschland der Nachkriegszeit, vor der ungeheuren Expansion des Faches Ende der sechziger Jahre, und ihre Repräsentanten verabscheuten einander von Herzen. Max Horkheimer und Theodor W.Adorno, die in Frankfurt das Institut für Sozialforschung wiedereröffnet hatten, waren nach Auffassung René Königs geschichtsphilosophische Schwätzer. Gegen den anti-empirischen Affekt in Frankfurt stand er auf seiten Helmuth Schelskys. Gemeinsam mit den Frankfurtern aber verabscheute er die Nazis und ihre verschämten oder unverschämten Nachfolger — also auch Schelsky, der in seinen von ihm begründeten oder geleiteten Einrichtungen (die Lehrstühle in Hamburg und Münster und die Sozialforschungsstelle Dortmund, aus der später die soziologische Fakultät in Bielefeld hervorging) keinen alten Freund unversorgt ließ.

René König paßte nicht recht in die deutsche Welt, in die er 1949 aus dem Schweizer Exil zurückkam. Die Kollegen wunderten sich, daß es Gründe für einen Nicht-Juden gegeben haben konnte, freiwillig ins Exil zu gehen. Aber König setzte seine Distanz in gründerische Aktivität um — und veränderte die deutsche Wissenschaftslandschaft. Zwar war die Soziologie dank der Initiative Leopold von Wieses, der sie vor 1933 führend organisiert hatte, mit amerikanischer Unterstützung schon 1946 neu entstanden. Zunächst aber setzte sie nur fort, was 1933 unterbrochen worden war, bzw. bis 45 weiter bestand: Eine Generation, die während der NS-Zeit Karriere gemacht hatte, war noch präsent — darunter Arnold Gehlen, Hans Freyer, Gunther Ipsen, ja selbst der Rassist Karl Valentin Müller und der „Deutsche Soziologe“ Karl-Heinz Pfeffer.

König war unbelastet. Sein darin begründetes internationales Ansehen setzte er für die deutsche Soziologie ein und sorgte dafür, daß sie rasch international Anschluß fand. Die Aufnahme in die International Sociological Association (ISA) 1949 markierte auch eine disziplingeschichtliche Wende von der angestaubten, überwiegend frankophonen oder mehrsprachigen Gelehrtenwelt der Vorkriegszeit auf ein englisches, auf die USA zentriertes internationales Referatekartell.

Die politische und wissenschaftliche Position Königs wird aus seiner Lebensgeschichte sinnfällig. Der 1906 in Magdeburg geborene hatte polyglotte Eltern, lebte als Kind in Paris und Halle, ab 1922 in Danzig. Die kosmopolitische, weitgespannte familiale Lebenswelt, die ihm schon als Kind ermöglichte, Italienisch und Spanisch zu lernen, erfuhr er von Anfang an als bedroht. Besonders Danzig muß in dieser Hinsicht entsetzlich gewesen sein. René König konnte sich daher mit der Rolle des Intellektuellen identifizieren, und nicht zufällig reagierte er in den siebziger Jahren besonders allergisch auf die Intellektuellenschelte Schelskys.

König, der mit der Emigration zum verbotenen Autor wurde, habilitierte 1938 in Zürich und erhielt dort, nach schwierigen Zeiten als Privatdozent, 1947 eine Professur. Der Lehrstuhl in Köln zwei Jahre später bedeutete einen Aufstieg, auch wenn er mit sehr gemischten Gefühlen zurückkehrte. Er hatte, wie er rückblickend schrieb, den „jüdischen Blick“: bei jedem deutschen Gegenüber fragte er sich, ob der auch Verbrechen begangen habe. König verabscheute das Sesselkleben und die Verlogenheit, in denen er fortwirkende deutsche Mentalitätsbestände sah. Der alte Kanzler regierte seiner Meinung nach mit der „ruchlosen Gerissenheit eines kommunalen Diktators“. Als Gegner der bornierten Konfessionspolitik der fünziger Jahre gründete König gemeinsam mit Gerhard Szczesny die Humanistische Union — und verließ sie wieder, als sie von der „Außerparlamentarischen Opposition“ übernommen wurde. König war kein „Linker“ im damaligen Sinne. Auch wenn die Kommunisten Opfer gewesen waren, so waren sie doch auch Täter. König verabscheute Fahnen, egal welche Farben sie trugen.

Was König aufnahm, ordnete sich in eine vorgängige Struktur ein. In Wien studierte er unter anderem Islamistik; die Erfahrung anderer Grammatikena — vor allem des Türkischen — verweist auf seine spätere soziologische Orientierung an Beziehungen, Abhängigkeiten, Zuordnungen und so weiter. Auch das sich an Durkheim anlehnende Insistieren auf die Eigenständigkeit sozialer Tatsachen hat wahrscheinlich in der Spracherfahrung eine Vorform. Besonders wichtig aber wurde für König die Psychologin Charlotte Bühler, Lehrerin auch von Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisl, die in der Emigration entscheidenden Anteil am Ausbau der amerikanischen Sozialforschung nehmen sollten. 1926/27 studierte König in Berlin — und hier vor allem bei dem Philosophen Max Dessoir, der Königs empirisch-realistische Neigungen förderte. Auch die von Dessoir vertretene Ästhetik ging von den Objekten aus und nicht von apriorischen Konstruktionen; das Denken war nicht Selbstzweck, und die Realität war nicht nur Anlaß.

Königs grundsätzliche soziologische Position war mit zwei Werken abgeschlossen, der Kritik der historisch-existenzialistischen Soziologie (1937) und der Soziologie heute, die 1949 in Zürich erschien: Soziologie sollte eine empirische Einzelwissenschaft sein — im Gegensatz zu allen geschichtsphilosophischen Heilslehren und Katastrophenszenarien. Die Zukunft ist, da in ihr radikal Neues entsteht, dunkel. Wo sie zur Gegenwart wird, entsteht Klärungsbedarf. Die Soziologie soll also nicht trösten oder zur Aktion reizen; sondern gegenwartsbezogen sein, um dann in klar abgegrenzten Teilbereichen praktische Maßnahmen zu fundieren.

Der Vorwurf der Erbsenzählerei lag gegenüber der positivistischen Soziologie nahe. Er verkannte aber — zumindest bei König selbst — jene radikale Offenheit gegenüber der Geschichte, die der Marxismus nie erreichen konnte. König selbst berief sich in diesem Zusammenhang nicht auf Popper, sondern auf den französischen Lebensphilosophen Henri Bergson.

Die siebziger Jahre brachten der von König initiierten Soziologie einen Professionalisierungs- und Wachstumsschub. Die Studentenbewegung hätte seine Sympathie haben können, wäre sie in seinem Sinne tatsächlich radikal gewesen — und das setzte für ihn Rationalität voraus. Während Horkheimer immer deutlicher konservativ wurde und Schelsky sich demonstrativ von der Soziologie überhaupt absetzte, änderte König seine Position nicht: Religionen, Eschatologien, Utopien und Verzauberungen waren ihm weiterhin zuwider. Er gehörte zu einer kleinen politischen Strömung, deren Potential sich nie wirklich hatte entfalten können und die seit den ausgehenden sechziger Jahren noch stärker in die Isolation geriet. Die Bedeutung der Generation von Gerhard Szczesny, Max Bense und René König muß erst wieder freigelegt werden; aus ihrer Perspektive ließe sich die Geschichte der Bundesrepublik neu schreiben.

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