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Der Friedhofs-Flaneur

■ Wer früher stirbt, ist länger tot. Der Wiener Tod ist eigentlich ganz normal, und doch wartet er hier mit einigen Besonderheiten auf.

Wer früher stirbt, ist länger tot. Der Wiener Tod ist eigentlich ganz normal, und doch wartet er hier mit einigen Besonderheiten auf.

VONCHRISTAKALETSCH

Sonntag, 1.März 1992. Der Wiener Frühling beginnt, und damit die Ausflugssaison. Die Wiener flüchten nicht nur aus den grauen Wohnpalästen, sondern auch vor den Freizeitaktivisten der Lobau: zum Hafen Albern, dem Friedhof der Namenlosen. Hier bei Stromkilometer 1918,3, wo der Donaukanal in die Donau mündet, der Ölhafen die Auwälder verdrängt, Krähen über Raffinerieanlagen kreisen und Flugzeuge im Landeflug Wien Schwechat ansteuern, versteckt sich das Ziel Wiener Spazierfahrten. Ein Autokorso zieht vorbei an grauen Lagerhallen, eilig — mit den auf dem Gürtel üblichen 60 Stundenkilometern — und zielstrebig: Parkplatzsuche auf dem staubigen Vorplatz des „Gasthaus zum Friedhof der Namenlosen“.

Nicht wenige steigern ihre Lust aufs Wiener Schnitzel, das hier hinterngroß übern Teller lappt, mit einem Spaziergang über den Friedhof. Mit Genuß erzählen sie sich, wie die aufgeblähten, angeschwemmten Leichen wohl ausgesehen haben mögen, rätseln, ob Schiffsschrauben nicht manche zerfetzt haben...

Die Wiener und der Tod. Eine Legende. Und dies gleich vorweg: der Wiener fürchtet sich vor dem Tod nicht weniger als der Frankfurter, Mailänder oder Pariser, und in Wien stirbt sich's nicht besser als in jeder anderen industrialisierten Massengesellschaft.

Der Wiener Tod ist also ganz normal. Und doch wartet der Tod hier mit einer kleinen Besonderheit auf. An manchen Stellen wird er lebendig, und dann wird es ganz schön skurril. Großmutter und Enkeltochter erreichen die Anhöhe des Friedhofes der Namenlosen. Die alte Dame berichtet von den Sterbegeschichten der hier Begrabenen. Das klingt nach Gruselgeschichte, und ich wäre als Kind sicher tausendundeine Nacht davon wach geblieben. Um den Schlaf der kleinen Wienerin braucht man aber nicht zu fürchten. „Konnten die nicht gut schwimmen“, fragt sie ungerührt. „Wohl nicht!“ sagt die Großmutter. Die Enkelin läßt nicht locker: „Wenn jetzt aber jemand ganz arg gut schwimmen könnte...“, bohrt sie weiter.

Selbst ein „Rettungsschwimmer“ hätte nichts genutzt. Denn: „Alle, die sich hier gesellen, trieb Verzweiflung in der Wellen kalten Schoß“, wie eine Gedenktafel verkündet. Selbstmörder, Verunglückte und einen, der „durch fremde Hand ertrunken“ ist, vereint der kleinste, schlichteste und traurigste Friedhof Wiens. Die rund hundert in den Wellen der Donau Ertrunkenen wurden hier bei Kilometer 1918,3 angespült und seit 1900 zwergengleich, dicht an dicht, bestattet. Hundertzwei einfache, gußeiserne Kreuze — allesamt ausrangierte Grabkreuze vom Zentralfriedhof — mit weißen Porzellankruzifixen, stecken in sauber aufgeschütteten Erdhügeln. Und es könnten noch viel mehr sein. Der letzte Tote wurde 1940 beigesetzt. Seit dem Bau des Hafens Alberns gibt die Donau ihre Toten nicht mehr her.

Montag. Irgendein Montag. Ausflug durchs „Grabsteinland“, die Simmeringer Hauptstraße, zum Zentralfriedhof, erstes Tor. Vis- à-vis dem „Schloß Concordia“, der kulturellsten „Gaststätte am Zentralfriedhof“, im ehemaligen Turmkontor des Hofsteinmetzmeisters „Sommer und Weniger“. Hier finden Arienabende, Lesungen und Ausstellungen statt, wird ganzjährig und durchgehend warm gegessen und auch mit „Frolic und Wasser an Ihre vierbeinigen Lieblinge (12öS)“ gedacht. Nicht genug: die Speisekarte bietet eine Sofortbildkamera zum Selbstkostenpreis von 15öS: „Wenn Sie zur Erinnerung ein persönliches Foto mitnehmen möchten...“ und rühmt sich, weniger als fünfzig Meter entfernt von den sterblichen Überresten des jüdischen Schriftstellers Torberg zu liegen.

Und genau hier, mit Torberg, am ersten Tor, beginnt die israelitische Abteilung. Eine Wildnis auf dem sonst so zivilisierten Zentralfriedhof. Wilde fette Katzen jagen Mäuse; Schnecken, Käfer und seltsame Wurmarten kriechen zwischen efeubewachsenen Grabsteinbrüchen, und der Boden dampft. Ein intaktes Biotop, aus dem wieder ein kultivierter Friedhof werden soll.

Salomon Weizmanns Grabstein ist umgekippt, und eine junge Frau notiert es auf ihrem weißen Notizblock. Sie gehört zum Freiwilligeneinsatz „Schalom“ am jüdischen Friedhof. Seit 1987 der x-te Wiener Versuch, die 60.000 jüdischen Gräber wieder zugänglich zu machen. Nicht nur das Sozialministerium aktivierte Arbeitslose zu Restaurierungsarbeiten; nach einer privaten Patenschaftsaktion wollte auch die Wiener Polizei nicht fehlen: 22 Polizeischüler streifen jetzt als Rodungstrupp durchs Gestrüpp. Doch die Natur scheint stärker zu sein. Immer wieder überwuchert Unkraut und Strauchwerk das gerade gesäuberte Areal. Antisemitische Zerstörungsakte tun ihr Übriges.

Irgendwie kommt man da schon ins Grübeln, ob es stimmt, daß der Wiener Zentralfriedhof „halb so groß, aber doppelt so lustig wie Zürich“ sein soll.

Weit ab vom Stephansplatz

Dem Wunsch nach Heiterkeit der Lebenden verdankt der Zentralfriedhof unter anderem seine Entstehung. Der aufgeklärte Mensch des ausgehenden 18.Jahrhunderts erkannte den Tod als urbanes, vor allem aber als unangenehmes Problem und begann, ihn auszulagern in parkähnliche, grüne Stadtviertel, die Zentralfriedhöfe. Und so entstand nach dem Vorbild des Hamburger Ohlsdorfer Friedhofs 1874 der Wiener Zentralfriedhof, der damals mit rund 200.000 Quadratmetern der größte Friedhof Europas war.

Heute ist er mit seinen cirka drei Millionen Einwohnern auf 300.000 Grabstellen nicht mehr der größte, aber einer der ganz großen Friedhöfe Europas. Und dazu ein mittelgroßer Arbeitgeber Wiens.

Donnerstag, Zentralfriedhof, zweites Tor. Zwischen der Karl- Lueger-Gedächtniskirche und den „Musikern“ kreuzen Traktoren und Bagger, Privatautos und die öffentlichen Buslinien auf den breiten Friedhofsalleen. In den Nebenwegen fahren Gärtner Fahrradrennen, aus den Bauwagen duftet es nach böhmischer Knoblauchküche, und gegen 16Uhr riecht die ganze Tram71 nach Duschdas. Der Zentralfriedhof beschäftigt zur Hochsaison 300 Arbeiter. Wie der Zentralfriedhof liegen auch die übrigen 55 Wiener Friedhöfe nicht mehr zentral, weit ab vom Zentrum, dem Stephansplatz, Wiens ältestem Friedhof. Dort, wo heute die Fiaker parkieren und die mailändischen Snobs Korso laufen, verbirgt sich unterm Kopfstein Wiens älteste Grabstelle. Und der mittelalterliche Stephansfriedhof soll nicht weniger spannend gewesen sein. Die verwinkelten Grabstellen luden zu Tanzfesten, Trinkgelagen und Kegelpartien ein, und die Wiener Prostitution hat hier ihre Anfänge genommen.

Keineswegs moralische Erwägungen, sondern die Pest, die an manchen Tagen 500 bis 700 Menschen wegraffte, sorgte für die Schließung des Stephansfriedhofs.

Pesterfahrung und aufgeklärtes Fortschrittsdenken führten dann dazu, daß 1784 alle innerstädtischen Friedhöfe geschlossen wurden: Die Toten wurden an den Rand, die Stadtränder, gedrängt. Aber nicht alle hat es so kalt erwischt wie die namenlosen Wasserleichen. Viele ruhen in den sonnigen Wiener Weinbergen. Die steil ansteigenden Alpenausläufer eignen sich selten für Friedhofszwecke, so daß die Gräber ineinander stürzen, wegrutschen und deshalb vielfach einfach „offen gelassen“ werden müssen.

Dafür eignen sich gerade der Nußdorfer, Dornbacher und Hernalser Friedhof für einen echten Wiener Friedhofsbesuch. Denn der Heurige und der Tod gehören in Wien eng zusammen. Viele folgen dem Grabspruch des — auf dem Hernalser Friedhof bestatteten — Heimatdichters Ferdinand Sauter: „Wanderer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter“, und finden sich zu einem der unzähligen Friedhofsheurigen ein.

Hier bei einem „Viertel Weiß“ tauschen sie mit anderen Verwitweten Informationen aus: „Letzte Woche waren acht Leichen. Und der Leichenbestatter ist eh schon krank.“ Die Krankenscheine für die längst Verstorbenen kommen immer weiter, und die Wiener Bestattung hat sie eh beschissen. Eine „schöne Leich“ ist teuer geworden. Und irgendwann, beim dritten Viertel, ist „Rapid“ dran, ein intensives Fußballgespräch beginnt. Die „Witwe Bolte“, die sich selbst die „urgemütlichste Weinschenke Wiens“ nennt, füllt sich. Ein alter Ungar enlockt der schrägen Zieharmonika lustig-traurige Töne. Es wird dunkel über dem vis-à-vis gelegenen Ottakringer Friedhof und Zeit für eine „Portion Stelzen“, noch ein Viertel...

„Das Leben überleben ma net“

Böse Wiener behaupten, die Wiener töteten sich sukzessive, schleichend selbst, beim Essen und Trinken. „Es wird ein Wein sein, und wir wern nimmer sein“ — heurige Weinseligkeit, die auch in Wien nur bis zum nächsten Katermorgen reicht.

Und doch, Spaß macht es schon, das Wiener Philosophieren über den Tod. „Das Leben überleben ma net“, sagt der eine. „Na, des überlebn ma net“ der andere. Gegraust sollen sie sich angeblich nicht haben, die Pestknechte, denn sie wußten: „Wer früher stirbt, ist halt länger tot.“

Aber dieser muntere Nihilismus kommt von einer Schallplatte und wird vor allen Dingen von Leuten gehört, die in der Regel noch 'ne Weile Zeit haben bis zum Sterben.

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