: Hoffmanns Entstellungen
Verdacht gegen die Ganzheitlichkeit „der Frau“: Peter Konwitschny erzählt Offenbach neu in Dresden ■ Von Irene Tüngler
Die Firma Lutter und Wegener betreibt die Theaterkantine im Keller. Oben gibt man Don Giovanni. Während Donna Anna singt, verwandelt sich der mit Natursandstein nobel ausgekleidete Bunker in ein wunderbares mechanisches Laboratorium. Ein Fließband holt Gäste und Flaschen ins Lokal, die Muse schwebt im Flügel ein, er leuchtet und spielt von allein. Das große eiserne Treibrad der Untermaschine, welches den ganzen Theaterbetrieb am Laufen hält, fördert auch Sehnsüchte aus noch tieferen Kellern herauf: Olympia, Antonia, Giulietta. In der Oper ist Pause, das studentische Publikum füllt das Lokal, Hoffmanns Erzählungen können beginnen.
Am Ende war es die beste Aufführung, die Dresden seit langem, langem erlebte. Jacques Offenbachs musikalisches Vermächtnis ist Oper, Schauspiel, Zaubertheater, Revue, und es geriet dem Regisseur zugleich zum philosophischen Weltspiegel.
Das fragmentarisch hinterlassene Meisterwerk reflektiert die altersweise Einsicht, daß glückselige Ganzheitlichkeit dem Leben nicht eignet. Einer verliert seinen Schatten, ein anderer das Spiegelbild, eine Frau wird in drei paralysiert, mechanische Maschinen gehen entzwei, Geigen wie Menschenseelen werden zerlegt. Jacques Offenbach starb über der Kompositioon, aber nicht allein deshalb blieb sie Fragment: vielfach verändert gerann das Fragmentarische vorher schon zu ihrer Form. Die Komposition so lange in seinem Leben hinausgeschoben und dann doch in Angriff genommen zu haben, bezeichnet seinen Abstand zum Stoff und dessen Verlockung. Er findet zu komplexeren, komplizierteren musikalischen Formen, zu reflektierenden, nicht allein ironisch kommentierenden Elementen und behält dennoch viel ätzende Schärfe.
Und die Musik wurde von Caspar Richter in Dresden auch so interpretiert: hart auffahrend, spitz und scharf. Trotzdem blieb sie heimlich grundiert vom samtenen sächsischen Kapellklang; die Synthese war fast ideal. Im selben Geiste musizierte der Opernchor. Rundadinella: Beifall auf offener Szene.
Analyse, Synthese, Seelenmechanik: E.T.A. Hoffmann hatte schon am Beginn des 19.Jahrhunderts die schizophrenen Entfremdungen gespürt, die Sigmund Freud an seinem Ende als Krankheiten definieren sollte. Hoffmann hatte sie schreibend zu gespenstischen Figuren und Geschichten aufgefahren. Offenbach fand sich in dieser Gedankenwelt wieder, als er das Theaterstück Les Contes d'Hoffmann, eine Kompilation aus verschiedenen Hoffmann-Texten von Jules Barbier und Michel Carré, kennenlernte. Auch der Regisseur Peter Konwitschny weiß, aus anderen Quellen und Zeiten, vom Nein, obgleich und Ja, aber...
Olympia, die mechanische Puppe, Antonia, die ihrer Leidenschaft und Sängerinnenkarriere auf Leben und Tod anhängt, und schließlich Giulietta, die Männer verschlingende Kurtisane, sind nichts anderes als die Produkte einer geistigen Zerlegungsoperation am Weib, von dem Barbier/Offenbach/Hoffmann argwöhnen, es könnte etwas beneidenswert Ganzheitliches sein. Die unerreichbare Geliebte Stella, die Synthese, ist dafür das Zeichen.
Hier setzt Konwitschnys Interpretation an: Hoffmanns Entstellungen. Vorgeblich nach der vollkommenen Geliebten suchend und sie immer wieder — in Teilen — findend, entledigt sich der Dichter ihrer, sobald ihn Bindungsängste anfallen. Den Schmerz des Verlustes beklagend, öffnet er selbst in jedem Fall die Tür für den Tod, der bei Olympia der Mechanikus Coppelius ist, Doktor Mirakel bei Antonia und Kapitän Dapertutto bei Giulietta. Dennoch ist die Klage echt. Hoffmann braucht das Selbstmitleid, die Zerrissenheit als Lebens- und Schaffenselixier.
Für die düstere Körper-, Seelen- und Kunstmechanik fanden Konwitschny und sein Ausstatter Bert Neumann sinnfällige Theaterbilder die Menge. Olympia, schwarz-weiß im Aerobic-Look lackiert, singt, an das Schwungrad geschnallt, und wird unten wieder aufgezogen, später wirbelt sie mit unheimlicher Kraft, den schweren Hoffmann tanzend, durch den Saal. Die winzige Person Christiane Hossfeld entledigt sich ihrer Koloraturen, während die Muse das letzte Exemplar von Theater der Zeit liest. Sabine Brohm, lyrischer Sopran, verleiht der karrierebesessenen Antonia eine beängstigende Energie, bevor sie im Flügel ihren Sarg findet. Endlich kommt Hoffmann in der Kneipe zum Schluß seiner — an der Semperoper sehr sächsisch-dialogreichen — Geschichte. (Inzwischen hat ihn auch sein besseres Alter ego Niklas verlassen. Anette Jahns hat diese undankbare Rolle des Vernünftigen sängerisch und darstellerisch mächtig aufgewertet.)
Was bleibt, wer bleibt am Ende? Der von Hoffmann erwürgte Schlehmihl wird wiedererweckt, und eine fröhliche Männerwirtschaft der Unverbindlichkeiten hebt an, nach allen Verlusten, nach dem Ende von Freud und Leid. Der Moralist Konwitschny, der in allen seinen Inszenierungen die Menschen nach Wärme flehen, suchen und um sie kämpfen läßt, reflektiert den horror vacui. Nicht nur im hoffmannesk-mechanischen Sinne erzeugt Reibung Wärme, auch im menschlichen, sogar im gesellschaftlichen. Es gibt keinen Grund für einen Künstler, für niemanden, das zu verdrängen oder zu verbergen.
Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen. Regie: Peter Konwitschny, Semperoper Dresden; weitere Aufführungen am 29.März, 6., 9., 14.April, 16.Mai und 1.Juni
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