Geheimtüren ins eigene Leben

■ Im Beiprogramm der »Jüdischen Lebenswelten«: Jurek Becker und Irene Dische lasen in der Akademie der Künste

Ähnlich wie in der Ausstellung Jüdische Lebenswelten selbst sind auch im literarischen Beiprogramm Autoren aufgrund ihrer jüdischen Herkunft versammelt — ob sie religiös sind oder nicht. Mit der Folge, daß die gelesenen Texte unwillkürlich daraufhin gehört werden, ob sie etwas »spezifisch Jüdisches« enthalten.

Jurek Becker, hierzulande vor allem durch seine Romane Jakob der Lügner oder Bronsteins Kinder bekannt, hat sich zu diesem Thema mehrfach geäußert. »Meine Eltern waren Juden«, lautete seine stoisch wiederholte Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft. Jude sein — das sei für ihn eine intellektuelle Entscheidung und keine »naturgegebene« Kondition; sein Vater habe ihm gesagt: »Wenn es keinen Antisemitismus geben würde — denkst du, ich hätte mich auch nur eine Sekunde als Jude gefühlt?«

Das ist der Hintergrund seiner Erzählung Die Mauer (aus der Sammlung Nach der ersten Zukunft von 1980), die er am Samstag in der Akademie der Künste las. Mit den Worten, »Mein Gott, ich bin fünf Jahre alt, wir Juden sind wieder ein stilles Glück« beginnt die Geschichte eines Kindes, das — wie Becker selbst — in einem polnischen Ghetto aufwächst. Bei den Erkundigungen seiner Umgebung stößt es auf eine unsichtbare Grenze, hinter der man weggefangen wird. Irgendwann nachts ist plötzlich Unruhe im Haus. Kaufmann Tenzer, der »nicht alle Tassen im Schrank« hatte und bei dem alle zum Geschichten-Hören gehockt hatten, ist schon abgeholt worden, als auch die Eltern plötzlich Taschen packen und umziehen — hinter die Mauer, ins Sammellager im Ghetto, wohin Leute kommen, »bevor sie in ein anderes Lager kommen, oder an einen Ort, an dem sie nötiger gebraucht werden als im Ghetto«.

Der Junge lernt diese »Logik«, wie Kinder sich eben gesetzte Regeln aneignen; er lernt Deutsch über den Appell, die Zahlen, »Wegtreten« oder »dalli, dalli« sind die ersten Wörter in der neuen Sprache. Für die Kinder ist das Ghetto vor allem graue Langeweile; sie üben Pinkeln im Bogen, beschleichen leere Baracken und beschließen endlich, bei Nacht über die Mauer zu klettern, in ihre alte Straße zu gehen und liegengebliebene Schätze aus den leergeräumten Häusern zu holen.

Es folgt eine atemberaubende Odyssee im Mondschein, mit Glasscherben, blutigen Knien, gespenstisch leeren Straßen und plötzlich auftauchenden Deutschen, deren glimpfliches Ende die anderen möglichen Ausgänge nur um so erschreckender klarmacht.

Die Tatsache, daß Becker diese Sprache, die nun seine einzige ist, eben nicht »mit der Muttermilch eingesogen«, sondern in »organisierter Anstrengung« erworben hat, ist vielleicht der Grund für die vorsichtige Präzision im Beschreiben dieser Kindheitserfahrung. Durch die fremde Sprache tritt er »wie durch eine Geheimtür ins eigene Leben«. Eine komplizierte Form der Autorenschaft, deren Existenzgrundlage eine Belagerungssituation ist.

Irene Dische, die 1952 in New York als Tochter eines zum Katholizismus konvertierten Immigrantenpaares zur Welt kam, hat in Salzburg das Mozarteum besucht, in Kenia einem Primatenforscher assistiert und in Harvard Literaturwissenschaften studiert. Die Protagonisten ihrer Geschichten — Dische wurde durch den Sammelband Fromme Lügen bekannt — sind forensische Pathologen, sadistische Großmütter, inzestuöse Geschwisterpaare und jüdische Nobelpreisträger, oder auch ein Hitler, der sich als streng katholischer amerikanischer Patriot tarnt. Die Figuren werden mit spitzen Fingern angefaßt und gegeneinander gedreht in einer Manier, die sowohl an Elfriede Jellinek als auch an die Autorinnen der Südstaaten-Gothics, Flannery O'Connor und Carson McCullers erinnert.

Dische liest aus einem noch unveröffentlichten Manuskript, das unter dem Titel Veränderungen über einen Deutschen demnächst im Rowohlt- Verlag erscheinen wird. Beschrieben wird — in der musikalischen Form des Marsches als Variation eines Walzer-Themas — die innere und äußere Verfaßtheit eines Hasso Waller von Waller Wallerstein (oder so ähnlich), des rotgesichtigen, blauäugigen Sprosses einer Adelsfamilie, deren Vorfahren als Kreuzritter Bethlehem in Schutt und Asche legten. Noch heute können sich die Familienmitglieder nicht über die Ungerechtigkeit der Nürnberger Prozesse beruhigen. Es sei versäumt worden, die Tugenden der Angeklagten zu berücksichtigen (einer der Beklagten sei zum Beispiel ein großartiger Segler gewesen). Die Familie gehört zu »einer Minderheit, einer bedrängten Bevölkerungsgruppe, die behaupten, verwandt zu sein, obwohl sie über den ganzen Globus verstreut sind, ein ungewöhnliches Kraut, das sich nicht gut kreuzt. Sie bleiben verbunden durch die Gewißheit, daß sie etwas Besonderes sind.«

Nicht von den Juden, wie es das Klischee will, ist hier die Rede, sondern vom Deutschen Adel. In ihrer Burg gibt es ein »Angst-Zimmer«. Hassos Eltern sind bei einem »Ehekrach ums Leben gekommen, der sich zu einem Autounfall beschleunigte«. Er selbst findet alles Lebende häßlich und abstoßend, speziell die Tatsache, daß es zwei Geschlechter gibt, obwohl doch eines sich als völlig lebenstüchtig erwiesen habe.

Leider dient der Umgang mit dem Klischee vom besonderen Volk nur zur Produktion eines weiteren Klischees: dem des Deutschen als todessüchtigen, pervertierten, blauäugigen Kraftmenschen, das hierzulande überraschenderweise immer wieder mit Freuden konsumiert wird wie bei Dische.

Wenn ihre Protagonisten vollends zu Kunstfiguren, zu Laborkonstrukten würden, gehörte ich sicher auch zu ihren Anhängern. Solange aber der Anspruch dahintersteht, den Deutschen zu sagen, wer sie wirklich sind, rutscht ihre Prosa oft auf das Niveau eines mokanten 'Spiegel‘-Portraits ab — zur Erbauung neudeutscher Party-Kosmopoliten. Mariam Niroumand