: Wo Glück in Tüten zusammenströmt
■ Am Wittenbergplatz sind die feinen Herrschaften nicht unter sich geblieben/ Nachbarn aus Steglitz, Berlinbesucher aus Castrop-Rauxel und Penner begegnen sich in der U-Bahn-Halle
Berlin. Gleich hinter dem Wittenbergplatz beginnt das Glück, das sich in Tüten nach Hause tragen läßt. Der Platz beziehungsweise sein U- Bahnhof ist der Anfang und das Ende, ist die Schnittstelle zwischen der träge vor sich hindümpelnden Kleiststraße und dem Gewimmel der Tauentzienstraße. Hier beginnt die bürgerliche Welt des neuen Westens, begegnen die, die noch voller Unternehmungslust die Tauentzienstraße und den Kurfürstendamm aufrollen wollen, denen, die ihre Konsumschlacht bereits geschlagen haben und nur noch nach Hause wollen. Die Gleichgültigkeit, mit der die Angehörigen dieser beiden Gruppen einander im U-Bahnhof passieren, wird nur hin und wieder von einzelnen Touristen durchbrochen, die, unsicher zwischen den Strömen rudernd, die Orientierung verloren haben. Vereinzelte Ruhesuchende retten sich zum Stehbistro am Rande des »kleinen Wittenbergtempels«, um sich hier mit einem, für diese Gegend vergleichsweise preiswerten, Kaffee zu stärken. Im KaDeWe, dem ersten Haus am Platze, wäre dieser Spaß schon etwas teurer. Bereits 1907, im Jahr der Eröffnung des ersten Großkaufhauses außerhalb der alten Stadtmitte, schrieb der sozialdemokratische 'Vorwärts‘ über den Teesalon des Etablissements: »Die Höhe der Preise wird dafür sorgen, daß der Plebs von diesen Zusammenkünften fernbleibt und die Herrschaften ganz unter sich sind.« Dieses Glück ist den Bahnhofshallengästen nicht beschieden. Wer hier ins Croissant beißen will, muß damit rechnen, mit einem Bettler konfrontiert zu werden. Ihn vornehm zu übersehen gelingt in der Regel nicht so leicht wie die kostenlose Passage der Straßenmusiker, die zu allen Jahres- und Tageszeiten den Vorplatz beschallen. Als, trotz ihrer Größe, sehr unaufdringlich erweist sich dagegen die Gedenktafel, die unter der Überschrift »Orte des Schreckens, die wir nicht vergessen dürfen« an eine Reihe von Konzentrationslager erinnert. Doch ist es fraglich, ob die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an dieser Stelle stattfinden kann. Denn wer vor dem inneren Auge bereits die Tafel »Herrenoberbekleidung: erster Stock; Schreibwaren: dritter Stock« hat, schafft es mühelos, die Mahnung sehenden Auges zu übersehen. Diejenigen, die hier ankommen, um das Reich der simulierten Bedürfnisse zu betreten, sind auf Sinnesreize aus.
Im KaDeWe wird, insbesondere im Erdgeschoß, vor allem die Nase gereizt, auf die in der Parfümerieabteilung eine Unzahl von Düften einprügelt. Wohlgekleidete Damen mit makellosen Gesichtern lächeln, je nach dem äußeren Erscheinungsbild der Vorbeigehenden, gewinnend bis herablassend, die Flakons mit den Gerüchen von Okzident bis Orient stets griffbereit. Viele der Kundinnen versuchen jedoch von vorneherein den Kontakt mit den professionellen Duftsprayerinnen zu vermeiden. Ihnen sind bereits beim Betreten des Tempels die eigenen Unzulänglichkeiten ins Bewußtsein gelangt. Die zerzausten Haare, der Pickel auf der Nase oder die schmutzigen Fingernägel — allesamt Erscheinungsformen, die ein Ausweichen ratsam erscheinen lassen können. Andernfalls drohen nächtliche Alpträume, in denen frau von perfekt geschminkten Geschlechtsgenossinnen in dunklen Haute-Couture-Kostümen umzingelt und verspottet wird.
Auf den anderen Etagen wird es dann beruhigend gewöhnlich. Frau und Herr Jedermann aus Steglitz und Castrop-Rauxel haben schon lange die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten verschoben. In rauhen Mengen rücken sie hier ein, um am Glanz der herrschenden Kasten teilzuhaben. Daß sie dabei vor allem sich selbst begegnen, scheint ihrem Vergnügen keinen Abbruch zu tun. Ihrem Geschmack wurde so manche Extravaganz geopfert. Die nachkriegsdeutsche Piefigkeit ist auch am KaDeWe nicht spurlos vorübergegangen. So suchen zum Beispiel die Kunden, die hier in den zwanziger Jahren Stöckelschuhe in der Größe 45 kaufen konnten, heute vergeblich nach den transvestitengerechten Übergrößen. Welch schwacher Trost für sie, daß zumindest die Klappe auf dem Wittenbergplatz noch existiert.
Jedoch auch hier ist der Glanz der Goldenen Zwanziger verblaßt, fehlen die jungen Männer mit gepuderten Wangen, graziösem Benehmen und melancholischen Blicken, die Hardy Worm auf dem Platz entdeckt hatte, bevor der Nazi-Terror diesem Treiben ein gewaltsames Ende bereitete. Statt dessen wird heute hin und wieder ein mehr oder weniger toter Fixer aus dem Liebespavillon gezogen. Der Wittenbergplatz hält nicht, was der Brunnen von Waldemar Grzimek, wenige Schritte von der Bedürfnisanstalt entfernt, verspricht. Die bronzenen Nackten aller Altersgruppen, die sich in ihm ungezwungen wohlig räkeln, dürften hier kaum auf NachahmerInnen stoßen. Vielmehr werden die sexuellen Bedürfnisse verschämt in die Toilette oder in den Sexshop an der Ecke getragen. Dieser gibt sich zwar von außen geschmackvoller als seine Äquivalente in der Potsdamer Straße, bietet ihnen jedoch das gleiche Erotiktotschlagsortiment wie letztere: Hochglanzblondinen, die, ihre Genitalien befummelnd, wahrscheinlich darüber nachdenken, ob sie die neue Einbauküche nun mit roten oder blauen Griffleisten haben wollen, haupt- und nebenberuflich »geile Jungs«, die ihren Arsch vermarkten, sowie Gerätschaften als Ersatz für die diversen Körperöffnungen. Angesichts dieser geballten Armseligkeit, die sich in der Tristesse dieses Platzes zu spiegeln scheint, wird der kleine Wittenbergtempel mit dem großen U plötzlich zum Zufluchtsort. Gnädig nimmt der Strom der Tütenträger auch die auf, die am Anfangs- und Endpunkt der großen Einkaufsmeile plötzlich den Eindruck haben, daß es aus den Gullis ganz furchtbar nach faulen Eiern stinkt. Sonja Schock
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