: Keunergeschichten und andere
Jens Reich und Heiner Müller: eine Diskussion in der Berliner Akademie der Künste ■ Von Thomas Groß
Rein büchertischmäßig stand es etwa 1:1. Links Müller- Bände von Mauser bis hin zur Wolokolamsker Chaussee, rechts Stapel von Jens Reichs gerade erschienener Streitschrift Abschied von den Lebenslügen; auf der einen Seite feierten die Klappentexte den „wohl international renommiertesten deutschen Dramatiker“ und — leicht antiquiert — „Träger des Nationalpreises I.Klasse der DDR“, auf der anderen Seite wurde ein „Mann der ersten Stunde“ gepriesen, „einer der Intellektuellen aus Deutschlands Osten, die gehört werden müssen“. Bloß was die Anzahl der Publikationen anbelangt, liegt Heiner Müller weit voraus; aber er ist ja auch schon länger im Geschäft.
Die Begegnung zwischen Jens Reich und Heiner Müller, die am Dienstag in der Akademie der Künste am Hanseatenweg stattfand, war als Streitgespräch angekündigt, als kleines Gipfeltreffen zweier Intellektueller, die in der verschiedenen DDR verschiedene Positionen innehatten. Zum einen Müller, ein früher Genießer von Reisefreiheit und Privilegien, ein ästhetischer Exportartikel mit „Westberührung“; auf der Gegenseite Reich, in der DDR als Arzt und Molekularbiologe eher im Hintergrund, ein Stiller im Lande. Und andersrum: Reich, der nach der „Wende“ Volkskammerabgeordneter wurde, das Neue Forum mitbegründete, versus Müller, ein Dramatiker, der seit längerem nichts mehr geschrieben hat, im Kulturbetrieb an Kurswert verliert und sich im Streit um die Vereinigung der beiden Akademien zu verschleißen droht. Am geplanten Schaukampfcharakter der Begegnung änderte auch die betont lockere, Talkshow-artige Inszenierung mit Club-Sesseln und Beistelltischchen (fehlte bloß das Salzgebäck) nichts, im Gegenteil. Auch wenn der Abend nicht fürs Fernsehen „mitgeschnitten“ wurde — das Publikum stand und saß hier so repräsentativ für die Gemengelage im Meinungsstreit um den richtigen Weg im Umgang mit DDR-Vergangenheit und BRD-Zukunft wie die eigentlichen Akteure des Abends.
Um es vorwegzunehmen: Das angekündigte Streitgespräch fand dann doch nicht statt. Nach ein paar einleitenden Rhetorika durch den unvermeidlichen Walter Jens wurde es einsam auf der viel zu großen Bühne. Müller, an seinem Whisky nippend, gab eher lustlos den Part des Fragenden, der ein offenbar wenig geschätztes Gegenüber aus der Reserve locken soll: Was, bitteschön, ist mit den Lebenslügen, die Reichs Buch im Titel führt, überhaupt gemeint? Mit welchen Lügen er denn noch im Clinch liege? Und: Ob ein Leben ohne Lebenslügen überhaupt vorstellbar sei? Gelegenheit für Reich, erst einmal die zentrale These seines neuen Buchs vorzustellen. Reich behauptet: Der Widerspruch zwischen kritischer Intelligenz und Politbürokratie in der ehemaligen DDR war nicht, wie viele glaubten, ein antagonistischer Gegensatz, sondern bloß der zwischen der herrschenden Klasse und ihrem hegemonialen Stand. Mit anderen Worten: Die Intelligenz in der Opposition verkannte wahnhaft ihre objektive soziale Funktion. Wo sie sich nämlich benachteiligt, entmündigt, marginalisiert wähnte, stützte sie in Wahrheit das System strukturell und sozial — durch Privilegien und andere Formen der alltäglichen Mittäterschaft. Sie glaubte sich bei ihren — anfangs noch sehr leisen — Protesten im Einklang mit der Unzufriedenheit der breiten Masse, sägte aber gerade dadurch an dem Ast, auf dem sie halbwegs bequem Platz genommen hatte. Denn nachdem die oppositionellen Intellektuellen zusammen mit dem „Volk“ im Kampf gegen die verkrustete Bürokratie unerwartet den Sieg davongetragen hatten, sahen sie sich plötzlich um die Früchte ihres Erfolgs geprellt. Das „Volk“ wollte sie nicht zu Führern wählen, der Westen nicht in dieser Rolle anerkennen. Fast von einem Tag auf den anderen waren sie überflüssig. Aus dieser Enttäuschung nichts gelernt zu haben, nichts lernen zu wollen, so Reich, mache die Lebenslüge der Ost-Intelligentsia aus: Die Geprellten blieben lieber die Gekränkten. Bis heute.
Immerhin, Reich will nicht mißverstanden werden: Am Loblied auf die deutsche „Revolution“ hält auch er an diesem Abend fest. Den Protagonisten sei zugute zu halten, daß sie die Umwälzung friedlich „abgewickelt“ hätten (er gebraucht tatsächlich dieses Wort). Zu einem neuen Selbstverständnis — und damit neuem Handeln — könne die intellektuelle Schicht allerdings nur dann kommen, wenn sie aus der larmoyanten Nostalgie, der wortreichen Anklage gegen die „Raubritter“ des Westens herausfindet und sich auf ihre „transzendente Rolle“ besinnt. „Wir sind die Narren, die unbeirrt die Wahrheit sagen, auch wenn wir verlacht werden. Nur Narren werden überleben.“
Für manche Ohren mag das provokativ klingen, nicht so für Heiner Müller. Narren, jaja, das sind wir alle, konzediert er, auch wenn für ihn die große deutsche Revolution eher ein kleines Stolpern im üblichen Geschäftsgang der Geschichte war. Doch statt Reichs Analyse zuzustimmen oder sie abzulehnen, statt Gegenanalysen aus der Tasche zu ziehen oder erkennbare Widersprüche herauszuarbeiten, erzählt er zur Antwort Geschichten, kleine Keuner- hafte Geschichten aus dem verflossenen, nunmehr real existiert habenden Alltag der Intelligenz: Von der Lächerlichkeit der Macht in Gestalt linientreuer Provokateure, die im Kinofilm Die Spur der Steine (mit Manfred Krug) nach Plan Buhrufe von sich zu geben hatten. Vom Komponisten Eisler, der ihm, Müller, nach dem Verbot eines seiner Stücke quasi unter Sozialisten die Weisheit zusteckte: „Müller, seien Sie doch froh, in einem Land zu wohnen, in dem Kultur so ernst genommen wird.“ Und manches andere.
Aber das ist es ja gerade, gibt Reich zu bedenken. Intelligenz und Bürokratie seien in Scheinkämpfe verwickelt gewesen, die die Partizipation an der Macht bloß verschleiert hätten. Die stille Teilhabe am Gang der Dinge habe Ideologien der Machbarkeit, des Grand Design begünstigt. Deren Folgen: Technokratie- Wahn und unabsehbare Umweltzerstörung, wie etwa am austrocknenden Aralsee, wo eine Jahrhundertkatastrophe gerade noch verhindert werden konnte.
Wieder widerspricht Müller nicht, oder nur in der bedächtigen Art eines chinesischen Weisen. Wieder erzählt er Geschichten: von ganz anderen Seilschaften im Westen, von der dort herrschenden Genugtuung über die Niederlage des Sozialismus, vom 70jährigen Krieg gegen die Sowjetunion, der aus ihr ein Abziehbild westlich-instrumenteller Vernunft gemacht habe. „Nicht als Ausrede“ sei das alles gemeint, aber er wolle es einmal gesagt haben, einmal mehr, hier und heute.
Nur selten wird der Brecht-Schüler in seinen verschlüsselten Miniatur-Parabeln direkter; etwa wenn er von einem Rudolf-Hess-Aufsatz erzählt, den er — als junger Mensch, versteht sich — mal gelesen habe. Dort wurden die Qualitäten eines Führers direkt aus dem Mangel an Einfühlungsvermögen in die Untergebenen abgeleitet. „Deswegen“, sagt Heiner Müller seelenruhig, „werden Intellektuelle, sofern es ihnen nicht gelingt zu verblöden, selten Politiker.“
Das klingt spitz, das grenzt, streng genommen, an Beleidigung, doch Jens Reich bleibt davon seltsam unberührt. Müller und Reich, sie verstehen sich nicht, können (oder wollen) noch nicht einmal miteinander streiten, weil sie ihre Rollen im wiedervereinigten Deutschland bereits festgelegt haben. Und zwar jeder für sich: Der rote Großvater erzählt, der grüne Neuling klagt an. Wo Müller sich entzieht, strategisch vieldeutig bleibt, will Reich Sinn stiften und Hoffnung machen. Wo Müller, sichtlich müde von den Auseinandersetzungen um die Wiedervereinigung der beiden Akademien, sich am liebsten vom Tagesgeschäft zurückziehen würde (er will wieder schreiben, kündigt er fast beiläufig an), strebt Reich nach Teilhabe an den Tageskämpfen der Politik. Wo Müller schließlich der Idee des Sozialismus nachtrauert und sich gut- dialektisch auf einen langen Winter eingestellt hat, träumt Reich tatsächlich von einer zweiten, post-sozialistischen Revolution, in der die verkannte, die bessere Saat des Ostens im Westen endlich aufgeht. „In den Köpfen muß es anders werden“, gibt er dem (gegen Ende scharenweise den Raum verlassenden) Publikum mit auf den Weg — auch wenn das ein wenig im Widerspruch zu seinen theoretischen Grundannahmen steht; von den langjährigen Erfahrungen der Westintelligenz mit ihren eigenen heroischen Selbsttäuschungen ganz zu schweigen.
„Wer alles zur Katastrophe programmiert sieht, wird selbst zum Faktor, der sie herbeiführt“, steht verhalten optimistisch am Ende seines Buchs. Bei Müller war stets anderes zu lesen: „Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel.“
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