: „Die Tarantella im Blut“
■ Der Hamburger Prozeß gegen zwei vermeintliche Mörder des Wehrmachtsrichters Erich Kallmerten zieht Kreise bis nach Moskau. Ein Zeitzeuge, der Historiker und Germanist Jefim Brodski, meldet sich zu Wort. Mit ihm sprach BARBARA KERNECK
taz: Was hat Sie dazu bewogen, in unserer Zeitung zum Hamburger Prozeß in der Mordsache Kallmerten Stellung zu nehmen?
Jefim Brodski: Ich war Kriegsteilnehmer, und die Fragestellungen, die sich mit dem dargestellten Todesfall verbinden, sind mir nicht fremd. Es war meine Dienstangelegenheit, während des Krieges den deutschen Antifaschisten sowohl im Hinterland als auch an der Front zu helfen. Ich habe im Jahre 1947 den Oberstabsrichter Kallmerten zwar nicht gekannt, aber ich habe sein Schicksal sozusagen als „Gegenüber“ auf der anderen Frontseite verfolgt.
Ein Ereignis, das fast ein halbes Jahrhundert her ist, kann man meiner Ansicht nach nur im Lichte jener Situation, jener gesellschaftlichen Armosphäre betrachten, die damals herrschte. Jede Generation liest in der Geschichte auf eine neue Weise, sie aber deshalb umzuschreiben, wäre unmoralisch. In manchen Artikeln aus der jüngsten Zeit wird in der Bundesrepublik das Ereignis, um das es hier geht, in einer direkten und meiner Ansicht nach unzulässigen Weise von den Problemen überlagert, die durch die deutsche Wiedervereinigung aktuell wurden. Die 'taz‘ bildet hier eine Ausnahme, und deshalb habe ich mich an Sie gewandt. Ich möchte Ihre Leser, und ganz besonders die jüngste Generation unter ihnen, in jene Zeit zurückversetzen. Und dies wird mir umso leichter fallen, als ich selbst sehr intensiv in ihr gelebt habe.
Wird vielleicht in den Presseberichten nicht nur überlagert, sondern auch weggelassen?
Man muß sich einmal in die Lage jener deutschen Gefangenen damals versetzen. Während sie sich gestern noch in den eisernen Fesseln der Wehrmachts-Disziplin befanden, machten sie nach ihrer Gefangennahme erst einmal eine Art Individualisierungsprozeß durch. Sie, und teilweise auch die Offiziere, fragten sich nach den Ursachen jener schrecklichen Tragödie, die sich an ihnen und in Deutschland vollzogen hatte. Aber natürlich dachten sie dabei in erster Linie an sich selbst, denn Gefangenschaft „ist kein Sanatorium“. Dabei blieb ein gewisser Teil der Soldaten den Bräuchen und Werten verhaftet, die man ihnen in der Wehrmacht anerzogen hatte. Ein anderer, kleinerer Teil, begann seine alten Ansichten neu zu bewerten und war vor allem erschüttert, zu welchem Ufer sie das deutsche Kommando getrieben hatte.
Und hier tritt ein zusätzliches Moment in Kraft: sowohl im Blut der Deutschen als auch der Soldaten der Roten Armee tanzte nach dem Kriege eine Tarantella. Da schäumten die Leidenschaften auf und — das muß gesagt sein — auch der Haß gegeneinander. Gestern hatten sie sich noch beschossen, und nun standen sie sich Auge in Auge gegenüber. Dieser Haß richtete sich bei der von mir beschriebenen Minderheit gegen die Offiziersschicht, die sie in das Elend geführt hatte.
Wie war die offizielle sowjetische Haltung gegenüber diesen Offizieren?
Zur Illustration kann ich eine kleine Episode anführen, deren Zeuge ich selbst gewesen bin. Der Generaloberst und später Feldmarschall Ferdinand Schörner war in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 Kommandeur einer Armeegruppe in Kurland. Hitlers Testament zufolge sollte er den Platz des Heeres-Oberbefehlshabers einnehmen und Mitglied der Flensburger Regierung werden. Das war also Hitlers Liebling — und gleichzeitig ein äußerst grausamer Mensch. Man muß sich dabei vor Augen führen, daß Kurland damals ja eingekesselt war und daß Hitler und seine Gefolgschaft die zynische Entscheidung trafen, die dort befindlichen deutschen Soldaten der Willkür des Schicksals zu überlassen. Nur wenige konnten sich in Richtung Danzig oder Wismar durchschlagen, die Hauptmasse blieb bei uns.
Einige Tage nach Kriegsende übergaben die Amerikaner Schörner, der sich davongemacht hatte, den sowjetischen Streitkräften. Und er tauchte im Kriegsgefangenenlager Nr. 27 in Krasnogorsk, hier bei Moskau, wieder auf. Das war ein Offizierslager. An Schörner, der damals noch ganz erfüllt von der eigenen Größe war, wollten die dortigen deutschen Gefangenen ein Lynchgericht vollziehen. Und da haben wir schon die Parallele zum Oberstabsrichter: Sie wollten ihn hängen! Schörner selbst hatte viele Soldaten erschossen, die Kurland zu verlassen versuchten. Der Kommandant des Lagers stellte aber klar, daß daran nicht zu denken war. Das war auch die Regel gegen einfache sowjetische Soldaten, die mit deutschen Gefangenen „kurzen Prozeß“ machen wollten. Solches wurde sogar mit Waffengewalt verhindert. Die Tarantalla im Blut blieb aber auf allen Seiten am Leben, und das ist ganz verständlich.
Hatte sich dieser Stabsrichter Kallmerten nun auf eine bestimmte Weise schuldig gemacht?
Seine Posten kennen Sie selbst: Divisionsrichter und im rückwärtigen Gebiet der Armeegruppe Kurland Oberstabsrichter. Er pflegte Todesurteile für ganz Kurland zu unterzeichnen, da er den Richtern sämtlicher 30 Divisionen übergeordnet war. Ich möchte hier von einer etwas anders gelagerten Angelegenheit sprechen, ein anderes Opernlibretto sozusagen, das sich aber ganz direkt auf das uns interessierende Drehbuch bezieht: Mitte August 1944 wandte sich Feldmarschall Paulus *) an die sowjetische Regierung. Er schreibt dazu selbst in seinen Memoiren: „... Die russische Regierung nahm das von mir unterbreitete Projekt einer ehrenvollen Kapitulation für die deutsche Armeegruppe in Kurland an. Dieser Vorschlag wurde — nun schon im Namen des russischen Kommandos — zusammen mit einem persönlichen Brief von mir dem damaligen Kommandeur der Kurland-Gruppe, Generaloberst Schörner, übergeben. Eine Antwort darauf erfolgte nicht.“ Und hier beginnt eine hochdramatische Situation:
Dreiunddreißig Mann aus den Reihen der antifaschistischen deutschen Gefangenen erklärten sich damals — auf rein freiwilliger Basis — bereit, dieses diplomatische Schreiben, von denen ich einige selbst gesehen habe, jeweils fest verpackt und mit Siegellack verschlossen, an Schörner oder wenigstens an in seiner Nähe situierte Armeeabteilungen weiterzugeben. Und zwar als Bevollmächtigte des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ und der Generale Seidlitz, Paulus und anderer Generale, die damals kritische Positionen einnahmen.
Warum in so vielen Exemplaren?
Das lag an der Länge der Front. Genaugenommen gab es in Kurland damals sogar drei sowjetische Fronten. Da standen etwa dreißig deutsche Divisionen, und auf den verschiedensten Wegen sollte der Brief auch Divisionskommandeuren zugestellt werden, unter anderem auch dem General Berger, dem Kommandeur der 132. Division, in der Kallmerten richtete. Und dabei war klar, daß längst nicht alle Boten am gewünschten Kommandopunkt auch ankamen. Krieg bleibt Krieg, und man rechnete mit Verlusten. Außerordentlich aktiv organisierte diese Aktion an der Front Oberleutnant Hermann Rentzsch, und ich habe viele von diesen 33 Antifaschisten persönlich gekannt. Sie waren unbewaffnet, viele nicht einmal in einer deutschen Uniform: das waren diplomatische Kuriere. Aus den Archivmaterialien ist mir glaubwürdig bekannt, daß dieser Mensch, Kallmerten, leider schwere Schuld am Tode vieler dieser Freiwilligen trug, die von den Deutschen zum Tode verurteilt wurden, auch wenn sie diesen Weg mit dem einzigen Ziel angetreten hatten, dem Blutvergießen ein Ende zu bereiten.
Bis zum Kriegsende sollte es noch acht Monate dauern — und hätte diese Good-Will-Mission Erfolg gehabt, wären Hunderttausende von deutschen und russischen Soldaten, die noch im Kurland-Kessel umkamen, am Leben geblieben. Ich kann die Namen einiger der Leute aufzählen, die infolge dieser Aktion zum Tode verurteilt wurden:
Zum Beispiel Siegfried Kühn aus Altenburg, geb. 1916, sein Urteil habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen, aber er wurde in eben der Division, in der Kallmerten als Richter diente, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das gleiche Schicksal ereilte den 24jährigen Günter Domröse, den 32jährigen Heinz Becker aus Hannover, den 24jährigen Otto Wagner aus Landsberg an der Warthe. Weiter fiel Kallmerten oder seinen Kollegen der ebenfalls 24jährige Hans Pullman aus Großzimmern bei Tiburga zum Opfer, daneben gibt es unter diesen Menschen eine ganze Reihe von bisher unbekannt Verschollenen.
Kallmerten wurde also für die künstliche Verlängerung des grauenhaften Krieges hingerichtet?
Jedes Lynchgericht ist verbrecherisch. Und die Antifaschisten in den Gefangenenlagern von Klaipeda, Vilnius und im damaligen ostpreußischen Heidekrug haben damals diese Tat verurteilt und erklärt, daß jegliches Lynchen mit dem Geist des Antifaschismus unvereinbar ist. Sie waren es, die damals dem wirklichen Mörder von Kallmerten den Beinamen „Van der Lubbe“ gaben, weil sie den Eindruck hatten, daß die Tat dieses Mannes mißbraucht wurde, um Kommunisten und Sozialisten zu diskreditieren, genauso, wie man einst den Reichstagsbrand gegen sie gewendet hatte. Dieser Mann gehörte nicht zu den besonders aktiven Antifaschisten, deren Namen in unseren Kreisen allen bekannt waren. Vielleicht hat „Van der Lubbe“ besonders viel über Kallmerten gewußt, aber dies kann seine Tat nicht rechtfertigen.
Wenn Sie sagen „dieser Mann“, dann gehe ich davon aus, daß Sie ihn nicht automatisch mit einem der Angeklagten im Hamburger Prozeß identifizieren?
Um Gottes willen. Ich gehe davon aus, daß dieser Mann Klaus Weniger ist, der als „verschwunden“ git.
Es war aber nur ein einziger Mörder?
Die Tat wurde zu zweit begangen. Zwei Leute wurden damals verhaftet, es gab ein Untersuchungsverfahren und einen Prozeß, der mit fünf Jahren Haft endete. Ich kenne eine ganze Liste von Antifaschisten im damaligen Kurland, die sich von dem allen distanzierten, und dieses Vorgehen als „Individualterror“ verurteilten, z. B. der spätere Bundestagsabgeordnete Willi Agatz, Karl Horn und Martin Heyne und auch Karl Kielhorn, den man jetzt auf die Anklagebank gesetzt hat.
Wen verurteilten die sowjetischen Behörden damals in diesem Fall, und zu welchen Strafen?
Mir haben aber verschiedene Zeugen versichert, daß die beiden zu langjährigen Strafen verurteilt wurden. Es stimmt allerdings auch, daß einer von beiden „spurlos verschwand“. Einer dieser beiden Familiennamen ist in der Presse im Zusammenhang mit diesem Fall übrigens noch kein einziges Mal genannt worden.
Was ich hier berichtet habe, ist für mich eine Art Bekenntnis. Die Befreiung Europas von der faschistischen Pest, gemeinsam mit den englischen, französischen und amerikanischen Streitkräften und den europäischen Freiheitskämpfern, zu denen auch die deutschen Antifaschisten gehörten, wird in meinen Augen, auch vor dem Hintergrund der Schrecken unserer Vergangenheit, immer eine lichte Seite in der Geschichte unseres Volkes bleiben. Den deutschen Antifaschisten hat der Mord an Kallmerten geschadet, und jetzt versucht ein Teil der bundesdeutschen Öffentlichkeit, dies auszunutzen.
Diese mutigen Menschen haben aber in meinen Augen nicht zuletzt auch eine entscheidende Rolle bei der Annäherung der ehemaligen Gegnermächte in der Nachkriegszeit gespielt — bis hin zum Ende des Kalten Krieges. Und die heutige geistige Annäherung zwischen Deutschland und Rußland, ja sogar die heutige deutsche Hilfe für Rußland — all diese Erscheinungen reichen mit ihren Wurzeln auf die uns gemeinsame Basis des Antifaschismus zurück.
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