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Wien — das ist wie eine fatale Konserve

Zu einigen neuen Büchern über den österreichischen Autor Thomas Bernhard  ■ Von Alexander Gorkow

Eine Stadt als große, alte Übertreibungskunst, als großes, altes Theaterstück mit Haupt- und Nebendarstellern und einem gewaltigen Bühnenbild. Natürlich rein subjektiv gesehen: Wien — eine fatale Konserve. Vielleicht ist den Wienern diese ganze Übertreibung selbst unheimlich, vielleicht entschuldigen sie sich deshalb so oft; der Ober im „Bräunerhof“ sogar dafür, daß kein Fensterplatz frei ist. Dabei kann er nichts dafür. Der Tourist begibt sich also mitten in das alte Theaterstück, mitten in den „Inneren Bezirk“. Er verläßt die Museen durch grotesk große Türen, läuft zusammen mit Straußens Walzer durch riesige Souvenirgeschäfte, sieht Fiaker mit fröhlichen Japanern um den Stephansdom fahren und erschauert über klassizistische Götterskulpturen, die mit ihren Riesenkeulen auf Monster einschlagen. Wirklichkeit als Übertreibung.

Mitten in dem alten Theaterstück liegen auch die Gassen, in denen nicht gesprochen, sondern gemunkelt wird. Munkeln macht ein schlechtes Gewissen, und das sieht man den Menschen an. Hier erzählt man hinter vorgehaltener Hand, was der andere nicht erfahren darf und doch erfahren wird. In einer solchen Seitenstraße liegt das dunkle „Café Hawelka“. Die Inhaberin, die dort seit über fünfzig Jahren die Stühle zurechtrückt und die Gäste zur Tür bringt, munkelt an diesem Abend über „den Bernhard“ — wo er gesessen hat, was er getrunken hat, wie er gegrüßt hat, und wie er mit einmal nicht mehr gegrüßt hat, und warum er dann ganz wegblieb. Dichtung oder Wahrheit?

Drei Jahre ist Thomas Bernhard tot, und doch ist er überall anwesend. Alle reden über ihn, und alle reden über Peymann, den Piefke, der immer „Schangse“ statt „Schaaans“ sagt und trotzdem weiter an der „Burg“ bleibt. 1986 begann das Elend, begann der Triumph. Den ersten Satz auf der Burgtheater-Bühne unter der Intendanz Peymann sprach Traugott Buhre als Bruscon in Bernhards Theatermacher: „Was hier/ in dieser muffigen Atmosphäre?“ rief Bruscon ins Burgtheater hinein, und wie schallte es in all den Jahren wieder heraus! — Thomas Bernhard ist überall, weil er allen fehlt, Freunden und Anhängern sowieso, erst recht seinen Feinden, den ewig beleidigten Kolumnisten der lokalen Presse etwa, die nun mit Peymann alleingelassen sind und jede seiner Frechheiten — da können die Katastrophen auf der Welt noch so groß sein — erst aufs Titelblatt hieven und dann im Leitartikel kommentieren: Nestbeschmutzer. Und auch Peymann fehlt er. Der „Burg“ droht neue Biederkeit, und demnächst kommt gar André Heller mit Schein oder Sein. Nomen est omen.

Geniale Methode zur Wahrheitsfindung

Die ORF-Redakteurin Krista Fleischmann hat die drei maßgeblichen Fernsehporträts über Bernhard gedreht und unter dem Titel Thomas Bernhard — Eine Begegnung (Verlag Edition S, Wien) schriftlich festgehalten. Beim Treffen im „Tirolerhof“ wittert sie Unheil: „Sie erfahren von mir nichts Persönliches über ihn, gell?“ Das nämlich ist das Drama. Was war das für ein Mensch, der die Österreicher als „ein Volk von sechseinhalb Million Debilen“ und Wien als eine Kloake bezeichnete, in der die Stumpfsinnigen nichts Besseres zu tun haben als ihre „Nazinudelsuppe“ zu essen? Alle wollen nun etwas Persönliches über ihn erfahren beziehungsweise — munkel, munkel — schon erfahren haben. Das führt zu Skurrilem und auch zu Widerwärtigem. „Die Leut' sollen doch endlich anfangen, seine Bücher zu lesen, dann begreifen sie ihn auch. ,Achten Sie auf die Form, auf den Rhythmus‘, hat er mir immer gesagt. Ich gebe die Empfehlung weiter!“, sagt Krista Fleischmann.

Thomas Bernhard ist tot; was bleibt, ist sein Werk. Das Werk aber — die Musik der Monologe, der fugenartige Aufbau, die Psychologie der Figuren, die Konsequenz der Gestaltung und die Komik der Tiraden — erhielt natürlich nicht annähernd soviel Aufmerksamkeit wie die Werkfragmente, die die lokale Presse vor den Premieren veröffentlichte. Die Subjektivität erhob Bernhard zur Methode, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Kunst hob er auf. In Österreich aber sah man in ihm nur den Hasser, nie den Liebhaber. Dabei lebte die Persönlichkeit und sein Werk aus dem Widerspruch: „Es ist eh alles positiv“, sagte er einmal, und daß er die Wirklichkeit nicht verändern wolle — er veränderte sie. Er schimpfte über sein Heimatland wie einer, der es lieben muß. Er renovierte aufwendig den Ohlsdorfer Hof in der weiten Natur, „die naturgemäß gegen den Menschen ist“, und saß stundenlang im „Bräunerhof“, obwohl „alles in ihm gegen mich ist“.

Der Wiener Germanist Wendelin Schmidt-Dengler, dessen spannende Anmerkungen zu Thomas Bernhard im Wiener „Sonderzahl“-Verlag unter dem Titel Der Übertreibungskünstler erschienen sind, schwärmt in seinem Büro begeistert über des Dichters „geniale Methode zur Wahrheitsfindung“: „Er hat ihnen ja allen an der Zunge gezogen, hat sie reden gemacht, alle! Und da steckte nicht diese verfressene, sozialdemokratische Kritiker-Gemütlichkeit hinter wie bei Turrini. Nicht durch das Pamphlet der österreichischen Schriftsteller kam der Waldheim- Skandal ins Rollen, sondern durch den Übertreibungskunstgriff — Heldenplatz, mit dem ja plötzlich ein ganzes Land inszeniert wurde!“

Nun aber wird gemunkelt. Die Aufarbeitung der Beziehung Bernhard-Österreich verläuft in so krausen Machwerken wie Maria Fialiks Der konservative Anarchist (Löcker- Verlag, Wien), einer Sammlung von Interviews mit Halbbekannten und Opfern des Dichters und — Jauche über die journalistische Ehre — mit einem Anonymen. Hier wird schmutzige Wäsche gewaschen, daß es nur so dampft. Immer wieder geht es darum, ob Bernhard Mitte der Siebziger einmal Burgtheater-Direktor werden wollte und ob der Peymann-Dramaturg Beil (damals noch in Stuttgart) seiner Berufung unter Bernhard hätte nachgehen sollen. „Das ist ein oberflächliches und ungemein schäbiges Ding“, sagt Hermann Beil in seinem Dramaturgenzimmer und schaut skeptisch. „Tatsächlich fragen sich die Leute in dem Buch die ganze Zeit, ob der Bernhard hätte wollen, und ob ich hätte wollen, und es kommt doch keiner auf die Idee, einmal hier anzurufen und mich zu fragen. Ich hätte schlicht gesagt: Das ist alles Unsinn, begeben Sie sich besser auf eine andere Fährte. So einfach wäre das gewesen.“

Rührendes und Fadenscheiniges

Dann wäre es aber nicht zu einem Buch gekommen und nicht zu einer weiteren Munkelei. Und der Mythos wird nicht durch Recherchen, sondern durch Fadenscheiniges gefördert — etwa durch Gemma Salems Brief an Thomas Bernhard (Löcker- Verlag, Wien), in dem die Französin dem Dichter eine rührende, gleichwohl wirre Geschichte über ihr Leben und ihren ergebnislosen Besuch in Ohlsdorf erzählt: Auch sie gehörte zu den Leuten, die Blumen über die Mauer ins offene Fenster warfen und aus der Ohlsdorfer Sommerfrische einen Belagerungszustand machten.

Ein anderes Bändchen stellt der Wien-Besucher besonders schnell wieder ins Regal der Buchhandlung zurück: Es untersucht die therapeutische Funktion des kleinen Thomas Bernhard auf seinen Großvater — nicht etwa umgekehrt.

Der Fotograf und Bernhard-Vertraute Sepp Dreissinger („Ich bin kein Wiener, sondern Vorarlberger, das müssen Sie wissen!“) findet das alles „zum Kotzen“ und hat sich aus dem Staub gemacht. Gerade hat er in der österreichischen „Bibliothek der Provinz“ seinen prächtig ausgearbeiteten, ungemein informativen Band Thomas Bernhard — Portraits, Bilder und Texte mit Beiträgen von André Müller, Benjamin Henrichs, Botho Strauß, Elfriede Jelinek, Ingeborg Bachmann, Antonio Fian und vielen anderen herausgegeben (im gleichen Verlag ist im übrigen gerade ein weiterer Band mit zwei Bernhard-Interviews von André Müller erschienen, Anm. d.Red.). Jetzt wohnt Dreissinger in Paris, wo „alles offener ist“.

Sein Buch — so groß angelegt (350Seiten, teilweise Hochglanz) und aufwendig (200DM) es auch sein mag — steuert der halbseidenen Mythosbildung entgegen und ist mit privaten wie öffentlichen Fotos und Anmerkungen, mit Feuilletonismen und herrlichen Bernhard-Interviews eine Fundgrube, inspirierende Collage und wunderbare Hommage — nicht an den Schimpfer Bernhard, sondern an den Schriftsteller. „Doch, Paris ist schön. Die Übertreibung ist dort halt eine andere. Aber in Wien“, sagt Dreissinger, während die pausenlos in Selbstgespräche verstrickte Bedienung im „Café Museum“ sich für die vergessene Quittung linkisch entschuldigt, „in Wien benimmt sich ja jeder Ober wie einer von der Spionageabwehr.“ Draußen laufen wir noch einmal über den Heldenplatz und durch den Volksgarten, der in diesem Spätschnee aussieht wie ein berühmtes Burgtheater-Bühnenbild. Eine Stadt also als Übertreibungskunst mit einem gewaltigen Bühnenbild — natürlich rein subjektiv gesehen. Einem Auto auf dem Heldenplatz ist gerade der Vorderreifen geplatzt. Das Auto schlägt knallt gegen die Bordsteinkante, rutscht auf die Wiese. Ein kleiner Junge springt rechtzeitig zur Seite. Die zwei fetten Krähen, die ausgestopft wie aus der Requisite auf ihren Holzpflöcken saßen, erheben sich müde zu einem Spazierflug.

Thomas Bernhard — Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Verlag Edition S., Wien 1991. 280S., viele Fotos, 49,80DM.

Maria Fialik: Der konservative Anarchist — Thomas Bernhard und das Staats-Theater. Löcker-Verlag, Wien 1991. 218Seiten, 40DM.

Sepp Dreissinger (Hrsg.): Thomas Bernhard — Portraits, Bilder und Texte. publication PNo1 — Biblitohek der Provinz, Weitra 1991. 362S., viele Fotos, 198DM.

André Müller im Gespräch mit Thomas Bernhard. publication PNo1 — Bibliothek der Provinz, Weitra 1992, 110Seiten mit Fotos, 28DM.

Gemma Salem: Brief an Thomas Bernhard. Roman. Aus dem Französischen Sibylle Kurt. Löcker Verlag, Wien 1991. 196S., 30DM.

Wendelin Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler — Zu Thomas Bernhard. Sonderzahl Verlag, Wien 1989, 125S., 2. erweiterte Auflage, ca. 25DM.

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