: „Er hat nichts Verrücktes, ist kein Rassist“
Bei den Vorwahlen im US-Bundesstaat New York schalten Demokraten und Medien systematisch unliebsame Kandidaten aus/ Larry Agrans Programm: Halbierung des Verteidigungsetats, Stillegung aller AKWs und Alternativenergie für Autos ■ Aus New York M. Sprengel
Es ist kurz vor sieben, Freitag abend in der Bronx. In wenigen Minuten wird der Fernsehsender ABC live aus der Konzerthalle des Lehmann College eine Debatte mit Bill Clinton und Jerry Brown übertragen. Noch ein letztes Mal tupft die Maskenbildnerin über die glänzenden Stellen in den Gesichtern der beiden Präsidentschaftskandidaten. Fünf, vier, drei, zwei und los. Die Erkennungsmelodie des Fernsehsenders tönt durch die voll besetzte Halle, der Moderator beginnt seinen einleitenden Sermon.
Clinton und Brown gelten als die beiden einzigen Demokraten, die im Juli von ihrer Partei zu Präsidentschaftskandidaten nominiert werden. Und obwohl die meisten Wähler mit dem Angebot unzufrieden sind, wissen sie nicht, daß es Alternativen gibt zu dem amtierenden Südstaatengouverneur, der zu Recht als „aalglatt“ charakterisiert wird, und dem Jesuitenschüler, der sich als reuiger Sünder eines korrupten politischen Systems verkauft. Schuld daran sind die demokratische Parteiführung und die amerikanischen Medien. Parteichef Ron Brown hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er das Bewerberfeld so klein wie möglich halten und das Rennen so früh wie möglich beendet sehen will. Und die Presse, immer dankbar für Orientierungshilfen, griff seine Klassifizierung der zunächst fünf und jetzt zwei „wichtigen Kandidaten“ bereitwillig auf.
Tatsächlich sind aber etwa bei den Vorwahlen in New Hampshire insgesamt 62 Bewerber angetreten. Einer von ihnen war Larry Agran. Obwohl er damals bei einer Umfrage sogar mit vier Prozent vor Jerry Brown rangierte, ist es heute der Ex-Gouverneur von Kalifornien, der sich im Blitzlicht der Kameras sonnt. Russ Baker von der New Yorker 'Village Voice‘ meint zynisch, Larry erfülle wohl nicht die von seinen Pressekollegen aufgestellten Kriterien für eine Medien-Berühmtheit. „Er hat nichts Verrücktes an sich, ist kein Rassist und scheint seine Frau nicht zu betrügen.“ In ihrer Nichtbeachtung von Agran ist die Presse sogar so weit gegangen, ihn aus einem Foto mit Clinton, Brown und Tsongas wegzuretuschieren.
Larry Agran ist eine sanfte Natur. Klein und schmächtig, leise und zurückhaltend. Der 47jährige hat nichts von Clintons aufbrausendem Wesen oder Browns bitterer Agressivität. In sein Schicksal, der unbeachtete, unsichtbare Kandidat zu sein, hat er sich mittlerweile fast klaglos ergeben. Noch im August war er mit großen Hoffnungen als einer der ersten Kandidaten auf die nationale Bühne getreten. Zwar hatte er es politisch nie weiter gebracht als bis zum Bürgermeister der kalifornischen Kleinstadt Irvine. Für seine progressive Politik — vor allem sein radikales Verbot von FCKWs — erhielt er aber 1990 eine Auszeichnung der UN für „beispielhafte Umweltpolitik“ und machte Schlagzeilen in der nationalen Presse. Mit seinen radikalen Ideen — er will den Verteidigungshaushalt bis Ende 93 um die Hälfte kürzen, bis 2001 alle Kernkraftwerke stillegen und 50 Prozent aller Autos nur noch Alternativenergie fahren lassen — hat er aber offensichtlich die Demokraten verschreckt. Indem die Parteiführung dafür gesorgt hat, daß er bei keiner Fernsehdebatte der Kandidaten dabei ist, hat sie ein ideales Mittel gefunden, ihn mundtot zu machen.
Freitag nachmittag, vier Stunden bevor Clinton und Brown sich auf ihren Fernsehausftritt vorbereiten: Agran und sein Pressesprecher Mike Kaspar hasten in das Gebäude der 'New York Times‘. Im Foyer zieht Agran einen Kamm aus seiner Brusttasche, fährt sich kurz über das Haar und drückt mit geübter Handbewegung die Welle über der Brille platt. Ab in den Aufzug und in den zehnten Stock. Kaspar hatte um ein Treffen mit der Redaktionsleitung gebeten und es bekommen. So hatte es zumindest gestern noch am Telefon geklungen. Ein freundlicher Mensch empfängt die Gruppe, bietet Tee und Kaffee an, man plaudert, lacht und wartet auf den Rest. Doch außer einem gehetzt wirkenden Kollegen, der für ein paar Minuten reinschaut, gelangweilt auf seinem Brillenbügeln rumkaut und mehr anstandshalber als interessiert fragt, was denn der Unterschied zwischen Agrans Programm und dem von Clinton und Brown sei, läßt sich niemand der „Big Shots“ blicken. „Wir haben das B-Team bekommen“, entrüstet sich Mike Kaspar auf dem Weg zum Aufzug. Den konservativ blauen Trenchcoat über dem linken Arm, die Brieftasche unter dem rechten, schlurft Agran mit gesenktem Kopf über den Flur. An Enttäuschungen ist er gewöhnt.
Nächster Termin: Lehmann College, Bronx. Agran, der zu der Debatte natürlich nicht eingeladen ist, will vor Ort versuchen, so viel Aufsehen zu erregen, daß man ihn mitmachen lassen muß. In New Hampshire hat das schon einmal geklappt. Im Mini-Van von Arthur Goldstein, Agrans Koordinator in der Millionenstadt, geht es jetzt gen Norden. Während Arthur über eine Erkältung lamentiert, dirigiert er den Wagen mit der Sensibilität eines Traktorfahrers durch den rasenden Verkehr. Aus zwei Spuren macht er kurzerhand drei, den ihm gefährlich nahe kommenden Laster scheint er im Nebel der eingenommenen Medikamente völlig zu übersehen. „Das ist ein Verrückter“, hatte Agran vor der Fahrt über Arthur zum besten gegeben und die Vorzüge eines Verkehrsunfalls erörtert. Der würde ihn wenigstens in die Schlagzeilen bringen: „Tragisches Ende eines Präsidentschaftskandidaten. Agran schoß mit 45 Meilen durch die Windschutzscheibe.“
„Was ist denn das Schlimmste, was passieren kann?“, checkt Agran vorsichtig die möglichen Folgen seines geplanten Auftritts ab. „Die können dich einsperren. Aber ein paar Stunden im Knast in der Bronx tun dir auch mal ganz gut“, unkt Mike Kaspar schmunzelnd. Agran bereitet sich auf einen angenehmeren Ausgang vor. „Oh Gott, ich muß mich rasieren“, stöhnt er, als er sich über das Kinn streicht. „Entschuldigt, daß ich mir den Mist ins Gesicht schmiere, aber so kann ich nicht vor die Kameras treten.“ Gesagt, getan. Statt Rasierer zaubert er ein Fläschchen Make-up aus der Aktentasche, das er großzügig über den grauen Bartschatten aufträgt. Mit Erfolg: Kein Fernsehzuschauer wird Agran mehr für einen unzivilisierten Menschen halten.
Während der Moderator der von ABC gesponserten Debatte vor laufenden Kameras die Debatte eröffnet, steht Agran von seinem Sitz in den hinteren Reihen auf. „Ich bitte respektvoll darum, an der Debatte teilnehmen zu dürfen“, ruft er, so laut er kann. Nicht laut genug, um den Moderator zu übertönen. Einige Hälse recken sich, einige wenige applaudieren, hören aber schnell wieder auf, als der Beifall dünn bleibt. Sicherheitsleute greifen Agran bei den Armen und zerren ihn kurzerhand, aber nicht schmerzlos, aus der Halle. Clinton und Brown lassen sich nicht irritieren, keine Kamera hat sich auf Agran gerichtet, die Schminkprozedur war umsonst. Dreieinhalb Stunden hält die Polizei ihn auf einem Revier in der Bronx fest. Und in ein paar Tagen muß er vor Gericht erscheinen. „Ungebührliches Benehmen und Widerstand gegen die Staatsgewalt“ lautet die Anklage.
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