»Det wird wieder det Bohemeviertel«

■ Am Koppenplatz und in den umliegenden Straßen sind mehrere Galerien eingezogen/ Abseits der Punks, die abends den Platz bevölkern, hält eine Friseuse in ihrem Salon die Erinnerung an die verschiedenen Zeiten des Toleranzviertels aufrecht

Mitte. Der kürzeste Weg zum Koppenplatz führt vom U-Bahnhof Weinmeisterstraße durch die fast völlig unbeleuchtete Gipsstraße. Es ist so dunkel, daß man besser auf der Straße geht, da die Bürgersteige schmal und außerdem von Baugerüsten vollgestellt sind. Links stehen alte verfallene, zweistöckige Mietshäuser. Rechts dominiert der Plattenbau. Abends ist es hier völlig still. Keine Autos, kaum ein Mensch auf der Straße.

In der Großstadt gibt es diese dunkle Stille meist nur in Neubausiedlungen, wo Bedrohung etwas Reales ist. Späte Heimkehrer fürchten sich möglicherweise vor einem messerschwingenden Handtaschenräuber, der gleich hinter den nächsten Mülltonne hervorspringt. Die alten Häuser in der Gipsstraße machen die Dunkelheit zusätzlich melancholisch. Hier rechnet man nicht mit Räubern, eher mit einem Geist. So einem alten, traurigen, der einen kurz anblinzelt und dann weiterschlurft.

Am Ende der Gipsstraße führt links die Große Hamburger Straße auf den Koppenplatz. Früher hieß sie Toleranzstraße, weil dort Wohltätigkeitsanstalten und Friedhöfe verschiedener Konfessionen nebeneinander lagen. Toleranzviertel, was heißt das schon? Arme Leute haben hier gelebt. Sie sind vor Hunger gestorben oder weil ein Ganove ihnen eins über den Schädel gebraten hat. Witwen und Waisen, Kriminelle und Huren und viele osteuropäische Juden lebten hier. Das Scheunenviertel liegt gleich nebenan. An die Zeiten erinnert fast nichts mehr.

Der Koppenplatz steht auf den Resten eines ehemaligen Armenfriedhofs und ist nach seinem Stifter Christian Koppe benannt. Der Ratsmann und Stadthauptmann Koppe stiftete den Platz 1705, damit die Armen ihre Toten innerhalb der Stadtgrenze beerdigen konnten. Koppe stiftete auch ein Armenhaus, in dem etwa zwanzig alte Frauen mit Wohnraum, Feuerholz und Essen versorgt wurden. Der Hausvater war gleichzeitig Totengräber. Er brachte die Leichen der Verunglückten und Selbstmörder zum gerichtlichen Obduktionshaus, das sich am Ende des Friedhofs befand.

1853 wurden das Armenhaus abgerissen, der Friedhof planiert und eine Gasbehälteranstalt auf dem Gelände errichtet. Nur Koppes Denkmal, 1855 von Friedrich August Stüler geschaffen, steht noch auf dem linken Bürgersteig. Übriggeblieben sind einige Häuser, die um die Jahrhundertwende erbaut wurden. Neben dem Grabdenkmal, Koppenplatz Nr. 12, erbaute Ludwig Hoffmann 1907 ein dreigeschossiges Haus mit Seitenflügeln, das heute eine Grundschule beherbergt. Ein schmutziges weißes Gebäude, dessen Fenster so klein unterteilt sind, daß es aussieht, als seien sie vergittert.

Die Nr. 11 daneben hat etwa siebzig Jahre früher der Stadtrat Hollmann zum Andenken an seine Frau errichten lassen und dort eine Stiftung für Witwen und Töchter höherer Beamter untergebracht. Jetzt dient das Haus als Alterswohnheim. Die Gasbehälteranstalt wurde 1875 abgerissen, seitdem ist die Platzmitte eine Grünanlage.

An der Ecke Große Hamburger Straße/Koppenplatz hat sich rechts eine Galerie einquartiert, die abends von Punks bevölkert ist. Daneben befindet sich ein Friseursalon — ein etwa zwanzig Quadratmeter großer Raum, dessen Wände mit braunem Leder tapeziert sind. Die Ledertapete wird von goldenen Nägeln in quadratische Polster unterteilt. Färben inklusive Waschen und Lockwelle kostet 26,50 Mark. Während die etwa 50jährige Friseuse einer alten Dame die Lockenwickler aus dem Haar dreht, erzählt sie, daß die Gegend vor dem Krieg eines der großen Berliner Amüsierviertel war.

Nebenan, wo die Galerie ist, konnte man im »Bienenkorb« einen trinken. Gegenüber war auch eine Kneipe. »An jeder Ecke ein Kino«, erwärmt sich die Friseuse langsam, und Ballhäuser und Tanzvergnügen in den Handwerkerhöfen in der Sophienstraße. Der junge Galeriebesitzer hat ihr erzählt, »det wird wieder det Bohemeviertel, det Künstlerviertel«. Aber sie mag nicht daran glauben. Früher, sagt sie, waren die Leute zwar auch arbeitslos, aber nicht so verbittert. Der Bitterkeit der Alten zum Trotz, haben dennoch einige Galerien inzwischen in der Gegend eröffnet. Vor allem in der Auguststraße. Wer sich eher bürgerlich amüsieren will, kann am anderen Ende des Koppenplatzes in Moni's Café Billard spielen und in der Laser Juke Box ein Musikvideo auswählen.

Die Friseuse, die immer am Koppenplatz gelebt hat — »ick bin nie über die Linienstraße hinausgekommen« — beschwert sich ausgiebig, daß es nicht mal genug Lebensmittelläden im Toleranzviertel gibt. »Dafür machen wir jetzt auf Boheme«, sagt sie in einem Ton, als wolle sie sich über die Jungen lustig machen. Aber es schwingt ein Unterton Hoffnung mit. Anja Seeliger