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Die Wahlen entscheiden sich in London

Südost-England hat zehn Jahre lang vom Thatcherismus profitiert/ Die Rezession trifft die Region besonders hart/ Für einen Sieg muß Labour den Torys 20 Londoner Wahlkreise abnehmen  ■ Aus London Ralf Sotscheck

„Das war mal ein Elektroladen“, sagt Hugh und zeigt auf das leere Schaufenster. „Und der gehörte mir. Ich mußte ihn im vergangenen Jahr schließen.“ Wir stehen in der High Road im Südlondoner Wahlkreis Streatham, der von den Torys kontrolliert wird. Die einheitliche Gemeindesteuer für Unternehmen hat Hugh finanziell den Garaus gemacht. „Dazu kam, daß der Hausbesitzer seine eigenen Geldprobleme dadurch lösen wollte, indem er die Ladenmiete immer weiter heraufsetzte“, sagt Hugh. Wie ihm geht es vielen. In der noch vor zwei Jahren intakten Einkaufsstraße stehen heute 40 Läden leer. Es wird dem Tory- Abgeordneten William Shelton schwerfallen, seinen Sitz in Streatham, einer konservativen Enklave in einer Labour-Region, zu verteidigen. Seine Mehrheit betrug bei den letzten Wahlen nur 2.407 Stimmen. Im benachbarten Tooting ist die Situation genau umgekehrt. Der Wahlkreis ist eine Labour-Enklave im Tory-Gebiet. Hier hatte der Labour- Abgeordnete Tom Cox 1987 nur 1.441 Stimmen Vorsprung — der landesweit unsicherste Labour-Sitz. Anders als in Streatham sind die Hauspreise in Tooting nämlich relativ stabil geblieben, was den Torys zugute kommt.

Der Wahlausgang in Streatham und Tooting ist völlig ungewiß, doch die britischen Unterhauswahlen werden am Donnerstag in Südost-England und da vor allem in London entschieden. In der Hälfte der 84 Londoner Wahlkreise herrschen knappe Mehrheitsverhältnisse. Ziel der Labour Party ist es, den Torys 20 Sitze in der Hauptstadt abzunehmen — das ist immerhin ein Viertel aller Mandate, die Labour landesweit hinzugewinnen muß, will die Partei die nächste Regierung stellen. Doch seit 1974 ist in London nicht ein einziger Tory- Wahlkreis zu Labour umgeschwenkt. Bei den letzten Parlamentswahlen 1987 kam die Labour Party gerade mal auf 35 Prozent, verglichen mit 45,8 Prozent für die Konservativen. Inzwischen hat sich das Bild etwas geändert. Meinungsumfragen deuten darauf hin, daß Labour den Torys 15 Londoner Wahlkreise abjagen kann — nicht genug, um Premierminister John Major vom Thron zu stoßen, obwohl Labour-Chef Neil Kinnock auch in London die Partei- Linke kaltgestellt hat. Dennoch beschwören die Torys weiterhin die „rote Gefahr“. Sie behaupten, die Labour-Linke würde sich nur aus taktischen Gründen ruhig verhalten, nach einem Labour-Wahlsieg jedoch wieder zum Vorschein kommen. Beweis dafür seien die Labour-Pläne für die Wiedereinführung des Londoner Stadtrats, der laut konservativer Wahlpropaganda nichts weiter als ein „Abenteuerspielplatz für Trotzkisten“ gewesen sei. „London ist für uns am schwierigsten“, gibt der Labour-Abgeordnete Chris Mullin zu. „Die Facharbeiter haben vom Thatcherismus profitiert. Dazu kommt der Verkauf von Sozialbauhäusern zu Schleuderpreisen, was den Torys ebenfalls Stimmen eingebracht hat. Die ärmsten und heruntergekommensten Viertel wählten dagegen Labour. Diese Viertel brauchen deshalb natürlich auch mehr Geld, was die Torys dazu nutzten, uns schlechtes Wirtschaften vorzuwerfen.“ Darüber hinaus ist es ausgerechnet die Kopfsteuer, die der Labour Party in London zum Verhängnis werden könnte. Viele potentielle Labour-WählerInnen lassen sich nämlich gar nicht erst ins Wahlregister eintragen. „Bisher habe ich noch keinen Pfennig dieser verdammten Kopfsteuer bezahlt“, sagt der 29jährige Tony aus Tooting, der sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. „Die wissen gar nicht, daß ich existiere. Lasse ich mich als Wähler registrieren, sind sie mir wahrscheinlich sofort auf den Fersen.“

Chris Mullin ist dennoch optimistisch: „Südost-England hat in den ersten zehn Jahren Tory-Herrschaft auf Kosten anderer Regionen profitiert. Den Leuten ging es gut, der Wert ihrer Häuser stieg. Viele haben sich jedoch finanziell übernommen. Deshalb treffen sie Arbeitslosigkeit und steigende Hypothekenzinsen nun viel stärker. Nirgendwo anders verlieren so viele Menschen ihre Häuser, weil sie die Hypothek nicht mehr zahlen können.“ Umfragen haben ergeben, daß in den Regionen des Südostens, in denen die Hauspreise am tiefsten gefallen sind, der Umschwung zur Labour Party am stärksten ist. Das Bruttosozialprodukt Südost-Englands beläuft sich auf 200 Milliarden Pfund (ca. 540 Milliarden Mark). Wäre die Region ein unabhängiger Staat, würde sie noch immer den 12. Platz in der Tabelle der wirtschaftlich stärksten Länder einnehmen. Während das Alternativ-Budget der Labour Party, laut der Wirtschaftsberater von 'Business Strategies Ltd. (BSL)‘, zu größerem Wachstum und geringfügig niedrigerer Arbeitslosigkeit als unter den Torys führen würde, müßte der Südosten zurückstecken. 1995 wäre Südost-England die einzige Region Großbritanniens, in der die Arbeitslosigkeit höher als unter den Torys liegen würde. Hugh steht vor seinem ehemaligen Elektrogeschäft in Streatham, das noch immer nicht neu vermietet ist: „Der Laden wird noch lange leerstehen. Die Zeiten sind nicht gut für Kleinunternehmer.“ Chris Mullin bringt es auf folgenden Nenner: „Die Mittelklassen müssen leiden. Wir waren ihnen 13 Jahre lang ausgeliefert.“

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