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Es lebe die vegetarische Weltrevolution

„Delicatessen“ von Jeunet und Caro — ein Manifest für die fleischlose Liebe  ■ Von Michaela Lechner

Irgendwo im Niemandsland abseits der Stadt ein Haus. Ruinös, freistehend, ein Stumpf vor schweflig düsterem Horizont. Am Ende der Welt die Zeit danach. Wenn nichts mehr wächst, sind Lebensmittel rar. Und Menschen werden Menschenfresser. Zwangsläufig. Das Rohe und das Gekochte.

In der Ruine lauern Mieter auf Nahrung. Allen voran der glubschäugige Metzger (Jean-Claude Dreyfus), der im Erdgeschoß an seine Mitbewohner Delikatessen verkauft. Für Nachschub scheint gesorgt, als der ehemalige Clown Louison (Dominique Pinon) den Schauplatz betritt. Kleinwüchsig, mit Wollpulli und einladenden Lippen — 63Kilo Lebendgewicht, mageres Frischfleisch sozusagen. Der Metzger wetzt das Messer, die Mieter sammeln Speichel. Und doch kann Louison dem Kochtopf entgehen, denn des Schlachters kurzsichtige Tochter Julie (Marie-Laure Dougnac) ist verliebt und Vegetarierin.

Bevor die fleischlose Liebe siegt, schwelgt Delicatessen in Szenarien der abstrusen Art. Wenn Kannibalismus an der Tagesordnung ist und die skurrilen Bewohner des klaustrophobisch-labyrinthischen Schattenhauses ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgehen. Waghalsig und voyeuristisch zwängt sich die Kamera durch enge Heizungsrohre und Schächte, schwebt in Räumen, verbindet die Stockwerke. Während Madame Interligator sich mit ausgeklügelten Kettenreaktionen um Suizid bemüht, produzieren die Gebrüder Kube in Handarbeit unermüdlich muhende Dosen. Papa Tapioca flickt Kondome und liefert Großmama ans Metzgermesser. Denn Sprößlinge haben Hunger. Monsieur Potin züchtet im Keller Schnecken und Frösche und ist demzufolge ein von Menschenfleisch unabhängiger Selbstversorger. Genau wie die Troglodisten, die unter Tage in der Kanalisation für die vegetarische Weltrevolution kämpfen.

Die schrulligen Charaktere bewegen sich in einem sorgfältig designten Ambiente. Details werden komponiert wie in einem Stilleben und häufig in Nahaufnahmen festgehalten. Filmische Feinkost allerorten, für die Delicatessen 1991 den europäischen Filmpreis für „Production Design“ bekommen hat.

Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro — Werbespotter, Videoclipper und Comic-erfahren — nutzen in ihrem Debütfilm hemmunglos einen allgegenwärtigen Bilder- und Ideenfundus. Und puzzeln preisgünstig, mit einem Budget von umgerechnet 6Millionen D-Mark, aus den verfügbaren Zutaten eine unglaublich witzige, bitterböse Alptraum-Komödie. Jede Szene, jeder Satz, jedes Requisit könnte Zitat sein oder Metapher und beim Betrachten zu Assoziationen verlocken. Man kann an Brazil, Element of Crime, Eraserhead denken, Parallelen zu Greenaway, Tati, Beckett, Carn ziehen oder dieses und jenes aus den Dunkelzonen des Gedächtnisses kramen.

Delicatessen ist unübersehbar ein Amalgam von Stilen und Genres und trotzdem mehr als ein aufgewärmter postmoderner Zitatenbrei. Jeunet & Caro haben Spuren geschickt verwischt, damit Bilder ihre Herkunft verlieren und sich einer eindeutigen Zuordnung entziehen.

Bis sie nur noch wie aus weiter Ferne an ihre visuellen Vor-Bilder erinnern. Statt simplem Déja-vu ein Nachhall mit Eigen-Sinn, über dessen Kultfilmniveau unter KritikerInnen schon heute Einigkeit herrscht. Zweifellos ist Delicatessen kalorienreiche Unterhaltungskost vom feinsten. Aber wenn die überraschenden Effekte ihren Überraschungseffekt verloren haben, wird sich die unzeitgemäße Frage nach dem Nährwert der Mahlzeit noch einmal stellen.

Delicatessen. Regie: Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro. Mit Marie- Laure Dougnac, Dominique Pinon, Jean-Claude Dreyfus. Frankreich 1990, 97Min., Farbe.

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