: Die Falschen fahren nach Berlin!
DFB-Pokalhalbfinale: Gladbach-Leverkusen 4:2 nach Elfm./ In einem Fußballdrama triumphiert Boruweia Mönchenglücksbach über die besseren Bayer-Kicker mit dem sensationellen Andreas Thom ■ Aus Gladbach Bernd Müllender
„Ein Wahnsinnsspiel“, diagnostizierte hernach Gladbach-Coach Jürgen Gelsdorf. „Sagenhaft“, befand Ex-Manager Grashoff, der sein Borussia-Buch Meine launische Diva am liebsten gleich um ein Kapitel erweitern möchte. „Unfaßbar“, stammelten Leverkusens Konzernprofis; „sprachlos“ sei er, sprach Bayer- Torjäger Kirsten. Versuchen wir dennoch niederzuschreiben, welches Kapitel Fußball-Geschichte am Dienstag abend zu Mönchengladbach geschrieben wurde.
51 Minuten lang dauerte die Ouvertüre — voller Tristesse, Schablonenfußball, Gegentorängsten und Rückpaßideologie. Es war beidseitiger Minimalismus, Sicherheitsgekicke im Zeichen der Abwehrreihen, kraftsparende Alibiaktionen, als ahnten alle, was ihnen noch bevorstand. Dann traf Kirsten zum 0:1. Und augenblicklich hatte der Pokal seine eigenen Gesetze wiedergefunden. Alle Dämme taktischer Gängelung waren gebrochen, das Spiel peitschte hin und her, die Zeit des „typischen Pokalfights“ war angebrochen. Der Bökelberg wurde zur rechtsfreien Zone, die Anarchie triumphierte und bewies, daß die Pokalgesetze nichts als Gesetzlosigkeit sind.
Die Borussia, mit Kampfkraft statt Spielkunst, glich (60.Minute) durch einen fulminanten Kastenmaier-Freistoß aus, und Bayer-Libero Franco Foda flog vom Platz (64.). Eine tragische Entscheidung: Martin Max hatte ihn siegmannhaft umgetreten, Ergebnis war eine zehn Zentimeter lange Rißwunde am Knöchel, die später mit 15 Stichen genäht werden mußte — aber als Foda so dalag mit Blick in die lieneneske Wunde, nannte ihn Frank Schulz hämisch einen Schauspieler, und der Gemarterte hüpfte auf, sprang rumpelstilzchenhaft auf einem Bein herum, schubste Schulz weg, der umfiel wie ein Stein. Der Schiedsrichter bekannte sich hernach, auch noch leicht mitgenommen vom Kriminalstück, zu einer Art Mitleidsentscheidung: Wenn Foda nicht so schwer verletzt gewesen wäre, hätte er ihm vollrot zeigen müssen, so aber, „wegen seiner dunkelgelben Karte zu Beginn“, blieb nur eine Wahl: Gelb-Rot.
Doch zu zehnt trumpften die Bayer-Kicker erst so richtig auf, wurden bis zum bitteren Ende zur klar überlegenen Mannschaft. Thomas Huschbeck, Gladbachs Verteidiger, fand bei seiner Auswechslung nach 80Minuten die Außenlinie mühelos. Das war sehr überraschend. Denn er mußte verknotete, verschleifte Beine haben, Kopfsausen und Schwindelanfälle, und er hätte bald vor ein UNO-Ökotribunal gestellt werden müssen wegen all der klimaschädigenden Luftlöcher, die er bei seinen vergeblichen Abwehrversuchen und Grätschlings fahrlässig getreten hatte. Was Huschbecks Gegenspieler Andreas Thom zuvor mit ihm angestellt hatte, war Demütigung eines Fußballprofis. Thom, der knubbelbeinige Ex-Dynamo aus Berlin, zelebrierte Fußball perfekt. Er tanzte über den Platz, unwiderstehlich und unaufhaltsam, er wand sich gewandter als die gewandteste Schlange um die machtlosen Gladbacher Abwehrrecken herum wie um die vielzitierten Slalomstangen.
Thom — ein Tomba des Rasens. Er schoß wuchtig und flankte mit Raffinesse, war überall, zeitweise Zweitlibero, auch Balljunge hinter Gladbachs Tor, wenn es nicht schnell genug ging und schon wieder torgefährlich vorne, die Gegner, die sich abwechselnd ohne Erfolg an Huschbecks Stelle versuchten, narrend, verwirrend, peinigend durch bloße Existenz. Thom führte seine sonst so emotionslos kickende Konzerncombo zur fußballerischen Leidenschaft, bereitete mit genialem Paß Kirstens Führungstor vor, knallte kurz darauf an den Pfosten, scheiterte noch zweimal an Gladbachs Torwart Uwe Kamps und traf nach Criens' unverdientem Führungstor (94.) in der allerletzten Sekunde der zweiten Verlängerung (inclusive diverser Nachspielzeiten etwa die 127.Minute) zum 2:2-Ausgleich. Doch damit — welch Hort bodenloser Ungerechtigkeit ist die Kickerwelt — machte der Weltklassemann dieses Abends sich selbst zum Statisten und einem anderen den Weg frei zum Auftritt als, ja, sagen wir es so theatralisch, Fußballhelden.
Es folgte ein Elfmeterschießen, wie es wohl selten da war: Leverkusens Jorginho, diese spielerische Augenweide von der Copacabana, schlenzt ins Eck: Gladbachs Uwe Kamps hält. Heiko Herrlich zielt noch genauer: Kamps hält erneut. Ion Lupescu knallt so wuchtig in die Mitte, daß das Netz wohl gerissen wäre: Kamps Faust versperrt den Weg. Martin Kree, der Mann mit dem härtesten Schuß der Liga, hält drauf: Und Kamps pariert den vierten Strafstoß hintereinander. 4:2 damit für Gladbach, weil Max und Fach zwischendurch ihre Elfmeter verwandelt hatten — der Rest war Tohuwabohu: Tausende Fans auf dem Rasen, die ihren Kastenwart irgendwo unter sich begruben und dann durch die Luft warfen, donnernde „U-we, U-we“-Choräle rund um den Bökelberg, Glückseligkeit, Fassungslosigkeit, Tränen.
Und die 34.000-kehlige Ankündigung einer Dienstreise am 23.Mai zum Finale: „Berlin, Berlin — wir fahren nach Berlin.“ Boruweia Mönchenglücksbach hat es geschafft. Andreas Thom, der Dramaturg und unfreiwillige Reiseorganisator, saß stumm stierend und regungslos im Mittelkreis. Sein Trainer Reinhard Saftig bestätigte ihm nachher, „herausragend in einer überragenden Mannschaft gespielt“ zu haben.
Ansonsten sprach Saftig die Wahrheit ruhig aus: „Die bessere Mannschaft ist ausgeschieden.“ Das sorgte für erboste Pfiffe bei den Einheimischen, die von Kamps Strafstoß-Stakkato noch völlig benebelten Sinnes über das unverschämte Glück dieses Abends waren. Und Saftig, sonst einer der netten in der westdeutschen Trainerarrogantia, wurde sauer. Ob es noch weitere dumme Fragen gebe? „Nein, nur noch eine schlaue Frage“, meldete sich der Berichterstatter einer kleinen Berliner Zeitung, „wer hätte denn, wenn es noch dazu gekommen wäre, den fünften Leverkusener Elfmeter verschossen?“ Saftig stand auf, verschwand wortlos und nahm das Geheimnis mit unters Bayer-Kreuz.
Bayer Leverkusen: Vollborn — Foda — Wörns, Kree — Fischer (97. Herrlich), Jorginho, Lupescu, Nehl, Stammann (109. Lesniak) — Thom, Kirsten
Zuschauer: 34.000; Tore: 0:1 Kirsten (51.), 1:1 Kastenmaier (61.), 2:1 Criens (95.), 2:2 Thom (120.)
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