: Guerilla im Hausflur
Über Hans Joachim Schädlich, anläßlich von „Schott“ ■ Von Walter Klier
Hans Joachim Schädlich, geboren 1935 in Reichenbach/Vogtland, Studium der Germanistik in Berlin und Leipzig, bis 1976 an der Akademie der Wissenschaften (Berlin), danach Arbeit als Übersetzer. 1977 erschien „Versuchte Nähe“. Im Dezember 1977 Übersiedlung nach Hamburg, seit 1979 wieder in Berlin.
So die offizielle Biographie eines deutschen Schriftstellers, die dem, der es nicht ohnehin weiß, einiges vornehm verschweigt: die Existenz eines Staates namens DDR, die DDR-Bürgerschaft des Autors und die damit und seinem Schreiben verbundenen Schwierigkeiten, die schließich zur „Übersiedlung“ nach Hamburg geführt haben. Vergangenheit wird nicht nur in Form von Lenin-Denkmälern entsorgt.
Nach Versuchte Nähe (1977), einem Band mit kurzer Prosa, der seinen Ruf begründete, erschien 1980 Der Sprachabschneider, 1986 der erste Roman Tallhover, 1987 ein weiterer Band mit Kurzprosa Ostwestberlin, alle bei Rowohlt in Hamburg. Am 13.März 1992 ist der „lang erwartete“ zweite Roman mit dem Titel Schott erschienen; demnächst gibt es bei LCB in Berlin ein Buch mit kleineren Texten, das den Titel Über Dreck, Politik und Literatur ('Text und Porträt7‘) trägt und dem der oben abgedruckte Text entnommen ist, ein, wie sollte es bei Schädlich anders sein, ebenso treffender wie vertrackter Selbstkommentar zu Tallhover.
Hans Joachim Schädlich hat noch nie besondere Anstalten gemacht, es seinen Lesern leicht zu machen. Der Ton stand von Anfang fest: die in ihrer angestrengten Ernsthaftigkeit häufig ins Komische umschlagende Genauigkeit der Formulierung. In dem Text „Halber Tag“ (in Ostwestberlin) spielt die Frage „Wie geht etwas genau?“ eine starke Rolle bei der Beschreibung eines Mannes, der äußerst mühsam und langwierig — in seine Hose hineinfindet.
Die Komik, die durch pedantisches Beschreiben alltäglicher Vorgänge entsteht, wird in Schott überboten durch die Komik genau ausgemalter Möglichkeiten, die sich aus einem bestimmten vorausgesetzten Umstand ergeben. Beckett hat (etwa in Watt) auf diesem Gebiet gearbeitet, mit gutem Ergebnis, desgleichen Pinget in Jemand.
Schott, der Held, ist zum Beispiel genervt durch Hinauf- und Hinuntergehen zu vieler Menschen auf der Treppe im Hausgang, das ihn bei der Arbeit des „Erfindens“ stört. So denkt er sich aus, dem Briefträger vorzuschlagen, dieser möge, nachdem er beim Austragen der Post bis in den obersten Stock gelangt sei, dort bis vier Uhr nachmittags ausharren. (Da beendet Schott seine Arbeit.) So könnte die Gesamtzahl unvermeidlicher Passagen wenigstens um eins verringert werden. In der Vorstellung wird nun der zugige, im Sommer zu heiße und im Winter zu kalte oberste Treppenabsatz mit allem möbliert, was dem Briefträger den Aufenthalt dort angenehm machen könnte: ein Stuhl, ein Lesetischchen, ein Kühlschrank, eine Kochplatte usw. usf. Das führt naturgemäß zu immer aberwitzigeren Komplikationen, insbesondere als Schott sich zusätzlich ausmalt, ein Mieter oder eine Mieterin träte dann auf den Treppenabsatz: „Wäre die Briefträgerin jung, der Mieter ebenfalls, stellte sich der Mieter vor den Sessel der Briefträgerin? Wenn ja, sähe die Briefträgerin, daß die Hose des Mieters offenstünde? Wäre die Briefträgerin alt, der Mieter jung, stellte sich der Mieter vor den Sessel der Briefträgerin? Wenn ja, sähe die Briefträgerin, daß die Hose des Mieters offenstünde? (...) Der Verfasser sagt: Wäre ich doch ein Briefträger und ein Mieter, dann wüßte ich mehr.“ Glanzvoll auch die Passagen, worin Schott seiner Abscheu gegenüber den vierbeinigen Freunden des Menschen freien Lauf läßt und sich gräßliche Todesarten und Abschlachtungsverfahren für besagte Freunde ausmalt.
Hier bahnt sich also der einzige ehrliche Roman an, den es heutzutage in Mitteleuropa geben kann: über lästige und/oder bemitleidenswerte Wohnungsnachbarinnen, Hunde, die einem das Leben vergällen, unangenehme Bekannte, die einen in unangenehme Lokale verschleppen, wo man zu lange bleibt, das schreckliche Erwachen nach durchzechter Nacht, und natürlich die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen, die stets mit der einen oder anderen Schwierigkeit behaftet sind, etwa jener, die die Heldin mit dem merkwürdigen Namen Liu, an Schott gerichtet, so formuliert: „Bist du allein, ist es dir zu einsam. Sind wir zu zweit, ist es dir nicht einsam genug.“
Tallhover, von dem ich noch reden möchte, ist ein politischer Roman, Schott ein privater. Private Romane kommen uns weniger bedeutend vor. Das ist zwar, abstrakt gesagt, ein Unsinn — so wie die Unterscheidung der Filme in „große“ und „kleine“, die ja ausschließlich mit dem Budget zu tun hat; auf die konkrete Wahrnehmung und Einschätzung der Romane hat es unbezweifelbar Einfluß. Um dieses vorhersehbare Defizit abzufedern, bemühen sich Verfasser und Verlag (im Klappentext), Sprachphilosophie, ästhetische Theorie und letztlich die Kunst mit großem K ins Spiel zu bringen, was diesen Roman leider, muß ich bei und trotz und wegen meiner großen Verehrung für den Schriftsteller Schädlich sagen, schließlich umbringt. Es gibt in Schott einen großartigen, lustigen und zum Schreien traurigen Alltagsroman, und dann gibt es einen anderen, der etwa mit dem Satz beginnt: „Jetzt kann ich mit Vergessen anfangen.“ In diesem zweiten, dem Kunst-Roman, wird das Beckettsche Reduktionsprogramm weitergeführt, man müßte sagen: auf die Spitze getrieben, wenn Beckett dies nicht schon selber besorgt hätte. Es wird die Sprache als sich selbst vorantreibendes und Sinn generierendes Medium vorgeführt. Schreibe ich „Schlucht“, ist die Vorstellung der Schlucht da. Schön und gut, aber so what?
Der Text hebt ab: aus dem Inventar des bis dahin Eingeführten und Beschriebenen, in luftige Höhen, unterseeische Tiefen und endlos glühende Wüsten. Die Figur, die Imagination und Fiktion namens Schott wird in einen riesigen Zeichentrickfilm hineingeschickt, aus dem sie nicht mehr herausfindet. „Sie bewegen sich in der Welt des Scheins“, heißt es gegen Ende des Romans, und es ist klar, daß das, einerseits, für alle Fiktion, für alle Figuren, für jeden Roman gilt, wie es aber andererseits für die guten Romane auch nicht gilt, oder für die guten Teile in diesem grandios gescheiterten Roman. Dort etwa, wo Schott mit seiner alten, gebrechlichen und vergeßlichen Nachbarin die immer gleichen und in dieser Wiederholung haarsträubend komischen Zwiegespräche hält, ist er so gut wie der beste Pinget. Wo er seinen Schott als Guerrillakämpfer in die Wälder schickt, in den Kampf gegen einen Diktator, der einen Namen aus Schotts Wach-Welt trägt, ist er so schlecht wie Doris Lessing in ihrer Science-fiction.
„In der Nähe eines trockenen Flußbettes findet er ein menschliches Gerippe, das solides Schuhwerk mit Profilsohle trägt. Die Schuhe passen Schott.“ Das glaubt man ihm seltsamerweise nicht, und wenn er den „Verfasser“ noch so explizit sagen läßt: „Nur keine Angst vor sandigen Metaphern. Schott ist wirklich in der Wüste.“
Es gibt wohl so etwas wie ein Gesetz der günstigen Distanz zum Realen, das die Fiktion nicht ungestraft verletzt. Dabei bleiben die erkenntnistheoretischen Extrempositionen außer Betracht, die zwar etwas über Ausgangspositionen der Sprachkunst sagen, aber nichts über das Endprodukt, für das es relativ unwichtig ist, ob es aus der Haltung einer radikalen Sprachkritik oder eines naiven Wirklichkeitsbegriffs heraus entstanden ist.
Und es hilft nichts, wenn der Verfasser in vorwegnehmender Abwehr die Figur des „Kunstrichters“ einführt und den Rezensenten damit argumentativ in den Schwitzkasten nimmt, wenn er den „Verfasser“ sagen läßt: „Wo es von Kunstrichtern wimmelt. Wo ich in den Hinterhalt, in die Falle, ins Leere laufe. Ich bliebe lieber in der Wüste.“ Und den Kunstrichter darauf sagen läßt: „Ich bin überall.“
Der Rezensent, nach einer Danteschen Lebens-Reise durch alle Fegefeuer und Höllen des Formalen, der Innovation, des reflektierenden Erzählens, kurz: der Moderne (inklusive Post-), stellt sich am Ende des 20.Jahrhunderts (ohne diese Reise vergessen zu haben oder in Abrede zu stellen) die schlichte Frage: Berührt mich das, was ich eben gelesen habe? Bei Schott lautet die ehrliche Antwort, die der Rezensent sich lieber anders gegeben hätte: zum Teil.
Das bringt uns zu Schädlichs Meisterwerk Tallhover, wohl einer der wichtigsten, interessantesten, spannendsten und implizit heitersten Romane der neueren Zeit. Tallhover, für die, die es noch nicht wissen, aber wissen sollten, sei es wiederholt, handelt von einem deutschen Geheimpolizisten, der etwa 130 Jahre alt wird und demgemäß von den vierziger Jahren des 19.Jahrhunderts bis in die fünfziger Jahre des 20.Jahrhunderts treu seinen Dienst tut unter allen verschiedenen Herren, die Deutschland während dieses Zeitraums hatte.
Es ist ein Roman, in dem nicht nur keine Liebesgeschichte vorkommt, so scheint es zumindest vorderhand, sondern überhaupt fast keine Frau. Das darf es kaum geben in einem Roman. Zum großen Teil besteht der Text aus den (längst historisch gewordenen) Details der Tallhoverschen Arbeit, der Tallhoverschen Passion: dem Überwachen, auf englisch heißt das intelligence work. Also zwei Sünden, die hier in Tugenden verkehrt sind. Denn so hart am Faktischen, Nachprüfbaren geht dieser Text lang, daß der Vorwurf der
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Kunstlosigkeit, des allzu Realistischen eben nur deshalb nicht auftaucht, weil man von allem Anfang an viel zu sehr in die Leidenschaft des Helden mit hineingezogen wird, die eine Leidenschaft für scheinbar unwichtige Kleinigkeiten, Fahrpläne, Aufenthaltsorte, Verabredungen, dunkle Absichten verdächtiger Individuen ist.
Diese Liebesgeschichte ist eine tragikomische. Die Liebe gilt der Idee der polizeilichen Ordnung. Aus verschiedensten Gründen mißlingt das Überwachen öfter als es gelingt. Tallhovers Obere haben wenig Einsicht in die Gründe ihres treuen Dieners, die die besseren wären, weil er die reine Idee verfolgt, nicht angekränkelt von niedrigen politischen oder gar menschlichen Erwägungen. So wird ein harmlos irrer Dichter jahrelang observiert, während Lenin unbehelligt in Deutschland umherreist. Und mit zärtlichem Ingrimm führt Tallhover in den dreißiger Jahren Buch über die Moskauer Schauprozesse.
Nach dem Aufstand von 1953 wird er ins Archiv abgeschoben, weil er mit seiner von der offiziellen abweichenden Interpretation der Ereignisse nicht hinter dem Berg gehalten hat. Seine schließliche Resignation — er spricht sich selbst des Versagens vor seinen Prinzipien schuldig und führt eine absurde Selbsthinrichtung aus — ist eigentlich ein tröstlicher Ausgang. Wo in Schott, zum Mißvergnügen des lesenden Individuums, das Individuum dekonstruiert wird, wird in Tallhover die staatliche Ordnungsidee dekonstruiert. Das muß dem Individuum, das sich (auch in der Demokratie) vom Staat stets eher bedroht als beschützt fühlt, gefallen.
— Versuchte Nähe. (Prosa) 1977, 224Seiten (auch als Taschenbuch: rororo 4565).
— Der Sprachabschneider. Mit Zeichnungen von Amelie Glienke, 1980, 40Seiten.
— Tallhover. (Roman) 1986, 283Seiten.
— Ostwestberlin. (Prosa) 1987, 180Seiten.
— Schott. (Roman) 1992, 339Seiten.
Alle erschienen im Rowohlt-Verlag, Reinbek.
— Über Dreck, Politik und Literatur. Literarisches Colloquium Berlin (Reihe 'Text und Porträt7‘), 1992 (mit Fotos von Renate von Mangoldt), ca. 130Seiten.
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