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Streit um Schwarzmeerflotte entschärft

Jelzin verkündet auf dem russischen Deputiertenkongreß: Rußland und Ukraine stellen Ansprüche auf den Marineverband zurück/ Statistiker machen interessante Beobachtungen am Rande der Veranstaltung  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Einen großen Schritt aufeinander zu haben offensichtlich der ukrainische Präsident Krawtschuk und Boris Jelzin gemacht. Gestern verkündete Jelzin vor dem Kongreß der russischen Volksdeputierten: Der Streit um die Schwarzmeerflotte sei „entschärft“. Sowohl die Ukraine als auch Rußland hätten ihre Ansprüche auf den Marineverband zurückgestellt. In den nächsten Tagen werde eine Kommission aus Parlamentariern beider Länder über das Schicksal der Flotte entscheiden.

Kurz nach der Verlautbarung tagte die Redaktionskommission für die Abschlußresolution des Kongresses. Von ihr wird nun der weitere Verlauf der Versammlung abhängen. Ein Rüge für die bisherigen Reformen und die Zurücknahme der Sondervollmachten für den Präsidenten waren von oppositionellen Abgeordneten am Mittwoch als Punkte in dem Dokument durchgesetzt worden. Die jelzintreuen Fraktionen „Demokratisches Rußland“ und „Demokratische Partei Rußlands“ drohten, falls die Kommission ihre Pläne nicht ändere, aus dem Saal auszuziehen. Auch Vizepremier und Wirtschaftsminister Gregor Gajdar hatte verkündet, das gesamte Kabinett werde zurücktreten, falls Jelzin seiner Vollmachten beraubt oder den Posten des Premierministers verlieren sollte. Ganz im Gegensatz dazu forderte der Vorsitzende der „Demokratischen Partei Rußlands“, Nikolai Trawkin, von der neuen Konstitution, die auf dem Kongreß verabschiedet werden soll, die Einführung einer Präsidialform der Regierung nach dem Vorbild der USA.

Boris Jelzin vereint zur Zeit die Posten des Staatspräsidenten, Pemierministers und Verteidigungsministers in seiner Person. Was die ihm erteilten Vollmachten betrifft, so erbittert viele Deputierte vor allem, daß er ohne Zustimmung des Parlamentes über Struktur und persönliche Zusammensetzung der Regierung entscheiden kann. Daß es bei der Diskussion um Jelzins Personalunion vor allem um Pfründe und Posten geht, argwöhnt die nunmehr in Opposition befindliche 'Prawda‘. Ebensowenig erblickt sie in den aggressiven Äußerungen vieler Abgeordneter eine grundsätzliche Gegenposition zur gegenwärtigen Regierung. So schnell änderten die Deputierten ihre Meinung: „Den Resultaten der Blitzumfrage zufolge unterstützen 653 Deputierte die Politik der Regierung nicht... Als aber die Forderung nach einem Mißtrauensantrag gegen die Regierung auftauchte, waren nur 400 dafür, sie auf die Tagesordnung zu nehmen... Die Deputierten werden die Regierung kritisieren und über das Elend der demokratischen Reformen stöhnen. Aber da die einen mit neuen Krediten geschmiert worden sind, andere die Erlaubnis zum Waffenhandel erhalten haben, die dritten sich auf preisgünstige Aktien bei der Privatisierung von staatlichen Objekten stürzen, so werden letztlich alle die Regierung in Ruhe lassen.“ Soweit die 'Prawda‘.

Um den Verdacht zu entkräften, er beschäftige sich mit der Verteilung eines großen Kuchens, erließ Präsident Jelzin am Mittwoch ein Dekret, das es Mitgliedern des Regierungsapparates verbietet, sich selbst an kommerziellen Aktivitäten zu beteiligen. Auch bezahlte Helferfunktionen zu wirtschaftlichen Gewinnen anderer sind danach verboten. Überhaupt ist den Abgeordneten jegliche zusätzliche Tätigkeit untersagt, außer akademischer Lehre oder schriftstellerisch-künstlerischer Arbeit. Sollten ihn die Deputierten trotzdem der Vollmacht zur alleinigen Regierungsbildung berauben und Gajdars Mannschaft infolgedessen zurücktreten, munkelt man, so habe Jelzin bereits ein Schattenkabinett in der Schublade. Auch für die Bildung einer „provisorischen Regierung“ in einer Übergangszeit sei bereits alles geplant.

Eine interessante Beobachtung am Rande machte inzwischen die Statistikkommission des Kongresses bei der Überprüfung der namentlichen Abstimmung: Dieselben Deputierten, die Jelzin seiner Sondervollmachten entkleiden wollen, sind auch dafür, daß die diskrete Hülle von der Lenin-Statue am Ende des Saales entfernt wird.

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