Jesu Einzug in Jerusalem

■ Einige Gedanken zum »Phänomen Grützke« anläßlich einer jetzt laufenden Ausstellung

Grützke ist der Größte«, bekennt Karoline Müller von der Ladengalerie ohne Umschweife, »oder kennen Sie noch einen zweiten solchen Menschenmaler?«

Damit trifft die Galeristin den Kern. Grützke, der die Menschen so malt, wie sie wirklich sind, auch wenn sie manchmal schon wie Karikaturen aussehen, ist in seiner Klasse so gut wie ohne Konkurrenz. Für die Museen und den Kunstmarkt allerdings ist er zumeist kein Thema. Auf den Kunstmessen in Köln oder Frankfurt muß sich Karoline Müller merkwürdigerweise immer mit dem Platz neben dem Klo begnügen. Es scheint, als sei es heutzutage beinahe schon ein Tabu, bestenfalls noch ein Anachronismus, wenn man figürlich malt. Genau das aber tut Grützke. Grützke ist Realist, sein Thema immer der Mensch. Bei der laufenden Ausstellung zeigt sich dieser Mensch vornehmlich als weiblicher Halbakt und in der Inszenierung des Historienbildes. Doch es geht um mehr als ein Abbild; es geht darum, im Menschen das Humane, seine conditio humana zu beleuchten.

Der Streit zwischen gegenständlich und abstrakt in der Malerei ist alt. Er geht zurück bis in Grützkes Studienzeit an der Berliner Hochschule der Künste. Hofer gegen Haftmann hießen damals, nach dem Krieg, die Antipoden: der Kunsthochschuldirektor gegen die Nationalgalerie. Die als modern auftretenden Abstrakten siegten und die Nationalgalerie hat bis heute — außer einigen geschenkten Zeichnungen — kein Gemälde von Grützke in ihren Beständen. Heutzutage, unter postmodernen Bedingungen, haben sich die allgemeinen Vorurteile gegenüber den Gegenständlichen eher noch gesteigert.

Grützke, fern allem Zeitgeist und seiner Moden, gibt eine ganz andere Antwort auf die postmodernen Fragen nach dem Verschwinden der Kunst, der Bedrohung des Wirklichen durch deren mediale Simulation oder der Krise des Darstellbaren im Zeichen des Erhabenen. Trotz allem — oder gerade deshalb — macht Grützke mit seiner Schule der neuen Prächtigkeit (geboren wurde diese künstlerische Haltung auf dem Höhepunkt der Konzeptkunst 1973) einfach weiter mit Mal- und Zeichenkunst. Er scheint dabei auf die Einsicht zu setzen, daß unser Bedürfnis nach Selbstvergewisserung im Bild des Menschen alle Zeiten überleben wird, solange jedenfalls, wie der Mensch sein Menschenbild nicht aufgeben will. Der Gewinn des Wettbewerbs zur Ausmalung der Frankfurter Paulskirche mit seinem 33 Meter langen und rund drei Meter hohen Fries Der Zug der Volksvertreter scheint zumindest ein Indiz dafür zu sein.

Der Stoff aus dem Grützkes Bilder entstehen, ist das pralle Leben. Das gilt für das monumentale, aus über 200 Figuren bestehende, offiziöse Staatsbild in Frankfurt zum Gedenken an das erste deutsche Parlament genauso, wie für die jüngst entstandenen, kleineren Arbeiten in der Ladengalerie. Dort, wo die Postmodernen nur Verluste verspüren, zeigt Grützke, da: das Leben ja trotz alledem immer irgendwie weitergeht. »Schmerzen und Freuden zu allen Zeiten«, wie Grützke auf die Frage nach einer Bedeutung selbst formuliert. Grützkes Thema und künstlerischer Stil dürften daher nur dem ans Fernsehen gewöhnten Blick des zerstreuten Publikums wenig Neues bieten. Der notwendige und alltägliche Blick in den Spiegel, den Grützke an sich selbst schon fast bis zur Penetranz im gemalten Bild festhält, zeigt weder die Visage des immer gleichen Kerls, noch die Eitelkeit eines Künstlers. Grützke präsentiert damit vielmehr die unendlich mannigfaltigen Erscheinungsformen des Typus Mensch. Wie in der Wirklichkeit ist das Individuum bei ihm jedesmal der Mensch, aber er ist auch in jeder Situation ein anderer. Oftmals muß Grützke deshalb eine Person — wie jetzt bei dem großformatigen Ölbild Paradies die Eva- gleich doppelt (manchmal auch dreifach) ins Werk setzen, damit sie der Wahrheit entspricht. Zwischen Kohlköpfen im Grünen liegend, recht idyllisch — links ein Kaninchen, rechts ein Tiger — reicht nur eine der beiden mit sich selbst beschäftigten, weiblichen Gestalten den Apfel an Adam.

Was reizt — abgesehen von der Meisterschaft der malenden Hand — an Grützkes Bildern, sind diese immer wieder neuen Inhalte: der Mensch, sein Leben und die großen und kleinen Geschichten, in denen er auftritt — ein denkbar reiches Thema für einen Maler. Grützke malt das mit der ihm eigenen Tief- und Hintergründigkeit, mal mehr humorvoll, dann eher tragisch, nie aber in böser Absicht. Auch in den jetzt gezeigten Pastellkreidezeichnungen und den groformatigen Ölgemälden begegnet man dem typischen Grützke; immer haben die Bilder diese mitunter groteske Spannung, im Großen das Kleine und im Kleinen das Große zu zeigen.

So findet man unter den vielen prallen Hintern, die einem in den rythmisch und bunt hingestrichelten Pastellen entgegengereckt werden, ein hingestrecktes Unterteil mit dicken wollenen Socken an den Füßen; eine groteske Unmöglichkeit für einen klassischen Akt. Aber Grützkes Modelle verkörpern ohnehin nicht ein so hehres wie langweiliges Idealbild, sondern die menschlichen Unzulänglichkeiten dazu und wie man damit trotzdem lebt. Um die Differenzen geht es, die die Spuren zeichnen, die das Leben den Körpern der dicken und dünnen, alten und jungen Frauen eingeschrieben hat. Die Figur bietet dem Künstler Gelegenheit, durch die schöpferische Hand in der sinnlichen Form des Kunstwerks die Darstellung des Wesens zu erreichen. Offenbar gelingt diese alte, traditionellerweise dem Genie zugeschriebene ästhetische Praxis noch. Oft empfinden die Modelle ihr Bild als geradezu schmerzhaft wahr.

Bei dem großen Gemälde Jesu Einzug nach Jerusalem greift Grützke die seit dem 19.Jahrhundert ausgestorbene Gattung des Historienbildes wieder auf. Ein androgyner Christus, den Blick gen Himmel gerichtet, reitet getreu der Heiligen Schrift auf einem Esel. Hinter ihm das Volk der Männer mit skeptischem Blick, nur die beiden Frauen im Bild eher erwartungsvoll und mit dem Palmzweig in der Hand. Die Unterprivilegierten aber, teils nackt oder körperlich verwachsen, küssen ihm Hand und Fuß.

Soll man das Bild als Gleichnis lesen? Das Establishment erkennt den Heiland nicht. Ronald Berg

Johannes Grützke: Jesu Einzug in Jerusalem und andere Bilder. Ladengalerie Kurfürstendamm 64, Mo.-Fr. 10-18.30 Uhr, bis 30.4.