■ BEI ÜBERFÜLLUNG SOLL KÜNFTIG DAS KLEINWALSERTAL GESCHLOSSEN WERDEN
: "Wie in einem Gasthaus"

„Wie in einem Gasthaus“

Hirschegg (taz) — Alle Wege führen nach Rom, aber nur ein Weg ins Kleinwalsertal. Diese altbekannte Tatsache wird seit einigen Tagen im südlichen Allgäu und im angrenzenden Österreich mit einem zynischen Unterton ausgesprochen. Denn dieser eine Weg — die B 19 — könnte schon bald für eine Reihe von Kurzurlaubern zur Endstation werden, noch bevor sie am Ziel angekommen sind. Egal, ob sie im Kleinwalsertal einen Tag lang wandern wollen, ihr Geld in der österreichischen Enklave ausgeben wollen, die deutsches Wirtschaftsgebiet ist, oder das Skifahren im Sinn haben — in etwa drei Jahren heißt es in den Stoßzeiten möglicherweise: Heute geschlossen!

Was beinahe wie eine Utopie klingt, ist für die Walser — wie sich die Bewohner des idyllischen Kleinwalsertales selbst nennen — bitterer Ernst. „Es ist allerhöchste Zeit, das Ungeheuer Verkehr in den Griff zu bekommen“, argumentierte verzweifelt der Bürgermeister der Enklave, Alois Fritz, bei einer öffentlichen Gemeinderatssitzung, bei der er ein revolutionäres Verkehrskonzept vorstellte. „Unser Ziel ist es, den Tagesausflugsverkehr aufzufangen, auf einem Parkplatz oder in einem Parkhaus, und dann in eine Buslinie umzuleiten, die das ganze Walsertal in einem guten Fahrplan bedient“. Den Walsern reicht es endgültig, sagt der Bürgermeister, der nicht etwa als Verfechter überzogener „grüner Formulierungen“ bekannt ist, sondern als gestandener Kommunalpolitiker der ÖVP gilt. Während in den vergangenen 30 Jahren die Übernachtungszahlen um etwa 88 Prozent gestiegen sind, mußten die Walser einen Zuwachs der Tagesausflügler um atemberaubende 309 Prozent hinnehmen. Viele Jugendliche, so ein Verkehrsexperte in der Gemeinde Mittelberg, werden dadurch immer aggressiver. Und sie neigen mehr und mehr dazu, ihren Unmut an den Gästen auszulassen.

Zwei Jahre lang haben zwei Büros an einem Verkehrskonzept gearbeitet, das unter anderem vorsieht, den Tagesausflugsverkehr „abzufangen“. Doch soll darüber hinaus ein Verkehrsleit- und -informationssystem installiert werden, das Tagesausflügler bei einer Überfüllung des Tales konsequent abweist. „Mit dem Auto kommen Tagesausflügler sowieso nicht mehr ins Tal, wenn unser Konzept greift“, sagt Bürgermeister Fritz. Aber auch ohne Auto soll ab einer bestimmten Anzahl von Gästen das Kleinwalsertal dichtgemacht werden. Toni Berchtold, der Obmann des Verkehrsausschusses, erläutert, wie das ganz konkret aussehen könnte: 5.000 Menschen wohnen im Kleinen Walsertal. 14.000 Betten stehen für Gäste bereit. Wenn diese Betten ausgebucht sind, also rund 19.000 Menschen sich im Tal befinden, sind noch einmal 2.000 Personen zumutbar, mehr sei nicht aufzunehmen. „Dann muß eben an solchen Tagen gesagt werden: Das Tal ist geschlossen — wegen Überfüllung. Das ist nicht anders als in einem guten Gasthaus, wo sie eben auch reservieren müssen.“

Verkehrsexperten und Bürgermeister sind zuversichtlich, daß sie in „drei Jahren mindestens 80 Prozent“ des Konzeptes verwirklichen können. Schließlich signalisierten sowohl die Landesregierung in Vorarlberg als auch die Bundesministerien in Wien, daß man schon lange auf einen Vorreiter in diesen Fragen warte. Zahlreiche Fremdenverkehrsgemeinden in Tirol, aber auch in Bayern warten gespannt auf das Walsertaler Experiment.

Zuschüsse wird es wohl auch geben, und die sind dringend nötig, denn die Maßnahmen verschlingen rund 100 Millionen Mark an Investitionen und laufende Betriebskosten von etwa zwölf Millionen Mark. Diese Investitionskosten sind es auch, die den überraschend forsch auftretenden Bürgermeister am eigenen Konzept etwas zweifeln lassen: „Es kann sein, daß wir es nicht schaffen. Aber dann können wir wenigstens sagen, wir haben es konsequent versucht.“ Einen reinen Publicity- Gag sieht Alois Fritz jedoch nicht in der Sache. „Wir meinen es völlig ernst.“ Er gibt sich sogar zuversichtlich, daß die Widerstände beispielsweise der Kleinwalsertaler Bergbahnen, die drastische Umsatzeinbußen befürchten, gebrochen werden können. Schließlich habe der Wohlstand durch den Fremdenverkehr sie allesamt nicht gücklicher gemacht.

Was aber passiert mit den Kleinwalsertal-Besuchern, die an den ausgebuchten Tagen an der Staatsgrenze abgewiesen werden? Die müssen zurück ins Allgäu — überwiegend wohl nach Oberstdorf. Dort, wo seit 15 Jahren über Verkehrsberuhigung geredet wird und bislang wenig geschehen ist, wird es dem Bürgermeister schon angst und bange. Doch die Oberstdorfer und auch die Kurgäste sehen das Walser Experiment trotzdem eher positiv. „Eine gute Idee, wenn sie sich wirklich realisieren läßt“, ist oft zu hören. „Auf jeden Fall besser, als immer nur über Verkehrsberuhigung zu reden“, sagt ein anderer. Und die rechtlichen Probleme, die der Oberstdorfer Bürgermeister Eduard Geyer sieht, die sehen seine Kleinwalsertaler Nachbarn nicht oder kaum mehr. Denn aus Wien wurde bereits signalisiert, daß die Änderung der Straßenverkehrsordnung so ausgeschlossen wahrlich nicht sei. Klaus Wittmann