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Am Sonntag eröffnet das EurodisneylandEingemeindet in das Land der Mäuse

■ Die BewohnerInnen des Dorfes Chessy wurden unfreiwillig zu Entenhausenern. Über ihr Leben im Vergnügungspark berichtet

Eingemeindet in das Land der Mäuse Die BewohnerInnen des Dorfes Chessy wurden unfreiwillig zu Entenhausenern. Über ihr Leben im Vergnügungspark berichtet

ALEXANDER SMOLTCZYK

Paul Virilio, der Denker der Geschwindigkeit, sagt am Telefon: „Wir müssen schweigen. Kein Wort über Disneyland, dieses Geschöpf eines US-Kolonialismus, diese vollkommene Zerstörung des Pariser Ostens. Nein, schweigen wir.“ Kein Wort also über Eurodisneyland. Nur einige Worte über das, was die Disney-Manager „hors-site“ nennen: alles, was „draußen“ liegt. Also fast alles...

„Pfiuuhh-pfiuuhh“ — es heult der Westernzug. Es heult über den Friedhof an der Rue Charles de Gaulle, es heult über das Rathaus, wo auch die Volksschule untergebracht ist, es heult durch jeden Winkel von Chessy. Denn Chessy liegt an der Grenze zum Adventureland. Eine Enklave in der „World of fun“. Ein Dorf von 1.150 EinwohnerInnen, zwangseingemeindet in das Land der Mäuse. „Alle fünf Minuten dieser Zug, es ist zum Wahnsinnig- (Pfiuuhh-pfiuuhh) zum Wahnsinnigwerden. Und abends das Feuerwerk. 98 Dezibel hat der Bürgermeister gemessen“, sagt Madame Faure, die vor acht Jahren nach Chessy gezogen ist. Damals noch nicht Adventureland, sondern ein verschlafener Flecken, vierzig Minuten von Paris entfernt, wo es im April nach Brennesseln und Vogelkirsche roch.

Jetzt hängt an vielen Häusern das Schild „Zu verkaufen“. Und vor einem aufgegebenen Bauernhof parkt ein Landcruiser. Auch Madame Faure wird ihr Haus verkaufen. Ihre Kinder sollen nicht „in einem Reservat aufwachsen“, sagt sie. Es riecht immer noch nach Brennesseln in Chessy. Aber zwischen den Apfelbäumen, jenseits eines zertretenen Maisackers, glitzert die Lollipop- Skyline von Frontierland und Main Street, USA. Und über'm Maisfeld heult — pfiuuhh-pfiuuhh...

Wie soll man es nennen, wenn, ohne die Bevölkerung zu befragen, binnen zehn Jahren 1.943 Hektar Brave New World in eine Landschaft gepflanzt werden? Ein Fünftel der Fläche von Paris. Wenn für 22 Milliarden Francs vier Millionen Kubikmeter Boden umgepflügt und in eine einheitliche Sauberwelt verwandelt werden? In Rumänien nannte man es Systematisierung.

Im Dorf Magny-le-Hongre sind die neuen Stadtpläne ausgehängt. Innerhalb der Fantasyworld heißen die Straßen „Maurice Schumann-“ oder „Europa-Boulevard“. Außerhalb heißen sie „Allee des aufgeregten Spechts“ oder „Straße zu Bray‘s Weide“.

Die Landschaft außerhalb von Disneyland heißt „La Brie“. Wie der Käse. „Früher gab es in Magny mehr Kühe als Menschen“, erinnert sich Marcel Dupré. Der 68jährige ist beziehungsweise war Bauer und lebt beziehungweise lebt noch in einem Haus, dessen Dachstuhl „so Anfang 1700“ gezimmert wurde. Er ist einer der sechs Bauern, die noch in Magny leben. Zwei sind bereits gegangen. Dupré hat nach der „gütlichen Einigung“ mit Disney 130 Hektar Land behalten. Zu wenig, um rentabel arbeiten zu können.

Auf Duprés Feldern hinterm Haus werden gerade Rasenrollen verlegt, künstliche Teiche, Dünen und Zuchtbäume verteilt. Für die achtzehn Löcher des „Eurodisney-Golfplatzes“. 85.000 Bäume haben Disneys Imagineers, wie die Fantasy-Ingenieure heißen, pflanzen lassen. Kühe dürften im Umkreis von Adventure- und Fantasyland laut Vertrag nicht mehr herumstehen, sagt Dupré. Schweinezucht und andere geruchsintensiven Tätigkeiten seien gleichfalls verboten. Über die Felder sieht man schwarze Banlieue-Kids ziehen, die das Arbeitsamt an Disney vermittelt hat. Sie schleifen Plastiksäcke hinter sich her, in die jedes umherfliegende Papierfetzchen eingesammelt wird. Morgen ist Eröffnung.

Am Ortsausgang von Magny steht noch ein aufgequollenes Sperrholzschild, auf das eine Mickymaus mit blutiger Nase gemalt ist: „Knabber nicht am Reichtum der Nation“, steht darunter. Aber er ist vorbei, der Widerstand der ersten Jahre. Die Bauern im Brie klebten nie an ihrer Scholle. Land wird beackert und verkauft. Punktum. Die Landwirte von Magny waren anfangs nicht gegen Disney, ihr Land schien ohnehin vom Untergang bedroht: „Wir dachten: immer noch besser als eine neugebaute Stadt. Würde wohl so eine Art Jahrmarkt werden. Außerdem hatten wir ja sowieso keine Wahl“, sagt Marcel Dupré. Der Staat hatte die ganze Operation rund um Disney als „im Interesse der Nation“ liegend erklärt, womit den Landwirten die Enteignung drohte. Sie protestierten, um korrekt entschädigt zu werden, nicht wegen dem blühenden Kreuzdorn und den Erlenhainen unten an der Communale.

Marcel Dupré ist am Dienstag ins Traumland eingeladen worden. Wie alle Brie-BewohnerInnen, die am 6.März 1986 ungefragt zu Entenhausenern geworden sind. „Also wenn Sie mich fragen“, sagt er, „ganz schön häßlich dieses Dornröschen-Schloß. Und die komischen Paraden... Wo wir doch in Europa Neuschwanstein haben und Fontaine bleau.“

Nicht zu vergessen das Schloß derer von Guermantes, gleich „Du C|oté de chez Disney“. Der Garten von Alain Rist endet unmittelbar an der Schloßmauer. Rist ist Präsident der Bürgerinitiative ACIDE (Association des citoyens contre Eurodisneyland) und seit der letzten Wahl Regionalrat der Grünen. „Wir sind mit 20,5Prozent die zweite politische Kraft in der Gegend.“ Es seien vor allem die Stadtflüchter und die Pächter gewesen, die Widerstand geleistet hätten, sagt Rist. Denn die Pächter wurden regelrecht vertrieben und im Gegensatz zu den Landeigentümern mit einer lächerlichen Entschädigung abgefunden. Jetzt, nachdem der Park eröffnet ist und die letzte Klage abgewiesen, bleibe nur zu verhindern, daß die Folgeprojekte wie geplant durchgezogen werden.

Das ganze Gebiet zwischen Magny und der A4 wurde zur „ZoneIV“ der „Neuen Stadt“ Marne-la- Vallée erklärt. Wurde damit Teil jenes Urbanisierungsprojekts, das den ganzen Pariser Osten zur Schlaf-, Kongreß-, Hotel- und High-tech- Zone machen soll. „Stadtentwicklung“ heißt das auf den Baustellenschildern. Als „ZoneIV“ haben die fünf Gemeinden Anspruch auf die Gewerbesteuer von Disney. Gewiß kein Taschengeld, aber: „Die Gemeinden haben sich durch den Bau von Kanalisationen für die nächsten zehn Jahre verschuldet“, sagt Alain Rist. „Wenn Disney Pleite macht, sind auch die Kommunen bankrott. Deswegen müssen die Bürgermeister alles tun, damit der Park ein Erfolg wird, auch wenn sie ursprünglich Gegner des Projekts waren.“

Die nächstgelegenen Dörfer haben sich in Goldgräbercamps verwandelt. In den Straßen parken Schwerlastwagen und Caravans, schnell errichtete Caféterias servieren vier Sorten Whisky statt Pastis. Monsieur Bentz ist der Bürgermeister von Coupvray. Über dem Tal hinter seiner Gemeinde wird jetzt ein Aquädukt für den TGV betoniert. Ab 1994 wird der Superschnellzug 40 Mal am Tag vorbeirauschen. Und viermal in der Nacht. „Das Tal ist zerstört“, sagt der Bürgermeister. „Und die Verkehrswege sind dennoch jetzt schon zu drei Vierteln gesättigt. Ich bin kein Feind von Disney, aber das Leben von Coupvray ist dahin. Jeder hat einen Freund, der schon die Koffer gepackt hat.“

In Coupvray, etwas unterhalb des Rathauses am Marne-Hang, findet sich eine rostige Hinweistafel, auf der mit Mühe ein Blindenstock zu erkennen ist. Der Stock zeigt auf ein Fachwerkhaus, an dem wiederum eine Tafel hängt: „Er öffnete all denen, die nicht sehen können, die Türen zum Wissen“, steht da auf englisch. Hier wurde am 4.Januar 1809 Louis Braille geboren, der Erfinder der Blindenschrift. Braille liegt längst im Pariser Pantheon. Nur „die Hände des genialen Erfinders“ werden von der „Gemeinde demutsvoll in dieser Urne bewahrt“, auf dem Friedhof von Coupvray. Ein vom internationalen Blindenverband bezahlter Greis führt durch die Räume. Man sieht die Ahle, mit der sich Klein-Braille einst am Auge verletzte, man sieht das Sattlerzeug des Vaters, Pfluggeschirre und ein Manuskript über das „Verfahren zum Schreiben von Worten, Musik und Chorälen mit Hilfe von Punkten“. Unter jedem Exponat ist eine Messingplatte in Braille angeschraubt, und wenn man mit dem Finger drüberfährt, kribbelt es. Besucher würden sich selten hierher verirren, sagt der Museumswärter. Man hätte natürlich auch nicht soviel zu bieten wie die Leute drüben. „Drüben?“ „Im Erlebnispark.“ Im Magic Kingdom. In der entzauberten Welt.

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