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Wendland — eine Region im Umbruch

Im ehemaligen Zonenrandgebiet weht der rauhe Wind ungeschönter Konkurrenz/ Der Boom nach der Wende endete mit der Abwanderung Einheimischer und stärkerem Autoverkehr/ Kampf mit den benachbarten „Preußen“ um die Touristen  ■ Aus Lüchow Heide Platen

Das Wendland: platt wie ein Tisch so weit das Auge reicht. Die schmucken Häuser in den Rundlingsdörfern stehen still im Kreis. Das ehemalige Berliner Hinterland und Hamburger Feriendomizil scheint sein Gesicht nicht verändert zu haben seit der Wiedervereinigung. Der Verkehr im Dreieck zwischen Lüchow, Dannenberg und Gorleben ist am frühen Abend so spärlich wie je, und auch am Tag rauscht er nicht gerade. Noch haben es sich die Hühner nicht abgewöhnt, über die Straße zu laufen. Busverbindungen sind selten, Gorleben am Abend immer noch nicht in Richtung Lüchow zu verlassen.

Und doch beschweren sich die Wendländer unisono: Zu viele Leute neuerdings, zu viel Betrieb, überhaupt, alles sei anders geworden. Noch ist Lüchow mit seinen rund 10.000 Einwohnern Kreisstadt. Diese Rolle, die ihr nach der deutschen Teilung zufiel, hat sie nur zu gern gespielt. Die Alten wissen allerdings noch, daß Lüchow, nach wie vor die Einkaufsstadt, früher für die Region wenig Bedeutung hatte. Eingekauft wurde in der „richtigen Stadt“: Das 13 Kilometer entfernte Salzwedel, das heute immerhin noch 25.000 Einwohner zählt von den ehemals 30.000. Dorthin gingen einst auch die Jugendlichen zum Tanz.

Angst vor dem Osten

Die Alten freuen sich, daß sie nun wieder dorthin können, „wenn da erst mal alles besser ist“. Und die Jungen hoffen auf ein bißchen mehr städtisches Flair in der Region.

Sauer sind die mittleren Alters; vor allem dann, wenn sie kleine und mittelständische Unternehmer sind. Sie fürchten die Konkurrenz aus dem Osten. Oder, noch schlimmer für die hartnäckig Einheimischen: Die Abwanderung in den eigenen Reihen. Das grenzt an Verrat. Da sei zum Beispiel ein Spediteur, Schützenkönig gar, stockkonservativ und heimatverbunden. Der habe, heißt es empört, sein Gewerbe schon umgemeldet. Keiner Wunder auch, wenn die Zonenrandförderung wegfällt, es „drüben“ Investitionskredite gibt und noch dazu bessere Konzessionen für Lastwagen. Zwei Tiefbaufirmen und ein Optiker sind auch schon weg. Und die Landwirte gehen. Da gibt es einen, der seine Lüchower Äcker mit Stillegungsprämie zur Grünbrache werden läßt und sich in der fruchtbaren Magdeburger Börde eingekauft hat. Nun, sagen seine Freunde zwischen Verständnis und Enttäuschung schwankend, ist er froh, „daß er endlich mal auf fruchtbarem Boden ackern kann“. Auch das örtliche Teppichgeschäft hat zu klagen. Zu Beginn der Wiedervereinigung expandierte es kräftig, lieferte massenweise Auslegware in den Osten, stellte neue Leute ein. Die gesamte Region mit rund 15 Prozent Arbeitslosen boomte plötzlich. Aber das ist schon wieder vorbei. Große „Teppichdomänen“ sind in die leeren Hallen jenseits der Elbe eingezogen und machen den kurzen Aufschwung West wieder zunichte. Und es kommt noch schlimmer. Die Immobilienpreise sinken, etliche der Ferienhäuser stehen leer oder zum Verkauf. Die Berliner sehen sich jetzt lieber an der brandenburgischen Seenplatte um. „Das ist“, meint einer, der in diesem Jahr noch einmal seinen Garten im roten Backsteinhaus bei Lüchow bestellt, „nicht nur näher, sondern auch schöner“.

Echte Konkurrenz erwächst der Region auch durch das Städtchen Arendsee in der Altmark, für die Wendländer also im verabscheuten „Preußen“. Arendsee, malerisch am Ufer des gleichnamigen Sees gelegen, ist auf Gäste eingerichtet. Es war schon zu DDR-Zeiten ein beliebter Ferienort. Die Häuser sind schmuck und barock mit städtischem Flair, nicht so bäuerlich-rustikal wie die Rundlingsdörfchen von Satemin bis Meuchefitz. Dorthin werden wohl auch die immer mauligeren Vertreter und Monteure ziehen, die jetzt abends in den wenigen Gaststuben über die Gegend fluchen, die „absolut, aber total tote Hose“ sei.

In der Kreisverwaltung Lüchow gibt sich Ernst Stelte, stellvertretender Stadt- und Gemeindedirektor, optimistisch — so gut er das auf norddeutsch kann. Das alles sei „noch kein Drama“. Natürlich sei der Landkreis jetzt „kein Naherholungsgebiet mehr für Berlin“. Und er weiß, daß sich seine Bürger Mühe geben, die Touristen zu halten. In Lübeln zum Beispiel serviert das erste deutsche Kartoffel-Hotel das Gold der Heide in allen denkbaren Variationen. Außerdem will eine niederländische Kartoffelstärke- Fabrik expandieren. Lüchow wird nach Steltes Ansicht schon nicht „auf den Stand vor dem 2. Weltkrieg zurückfallen“. Ob es Unmut in der Region erregt habe, daß der Landtag in Sachsen-Anhalt sich ein Kindertagesstättengesetz genehmigte, daß die Niedersachsen in Hannover, die das Nachbarland immerhin großzügig gefördert haben, sich aus Geldmangel nicht leisten können? Nein, sagt Stelte, davon weiß er nichts.

Lüchows Bürgermeister Kurt Schwarting (CDU) sitzt im Zimmer 256 der Kreisverwaltung als Schulamtsleiter und bietet Plätzchen an. Der Mann ist Optimist, er muß sich gar nicht erst darum bemühen. Auf seine eigene Partei ist er zur Zeit gar nicht so gut zu sprechen. Bürgermeister wurde er erst vor vier Monaten, seine „Osterfahrungen“ hat er vorher in Postdam gesammelt. Er weiß, daß das „alles viel zu schnell gegangen ist“. Aber er wehrt sich gegen die Resignation in die viele Lüchower verfallen seien. Die vormals sehr arme Region habe sich eben viel zu lange auf der Förderung wegen ihrer Zonenrandlage ausgeruht. Optimismus, Investitionsfreude und gute Dienstleistung sei mit der „echten Konkurrenz Brandenburg und Altmark“ vor der Haustür dringend angesagt. Seine Devise: „Nicht immer nur jammern!“ Deshalb veranstaltet die Kommune Stadtfeste und Spargelessen, hat sich einen Werbefachmann geleistet. Schwarting will in dieser schweren Zeit für alle da sein. Die Einigkeit sei so groß, daß er sein Amt in einem richtigen „Schmusewahlkampf“ gewonnen habe.

Von Schmusestimmung ist alles in allem aber nichts zu spüren. Eisern hält die Bevölkerung die hannoversche Welfenfahne hoch gegen die „Preußen“ dies- und jenseits der Elbe. Hingefahren wird da nicht. Die Salzwedeler, deren Spezialität traditionell der Baumkuchen ist, schlagen ihrerseits mit Gedichten über habgierige, Baumkuchen erschleichende West-Händler zurück. Unmut erregen auch die 500 Pendler, die täglich aus Sachsen-Anhalt ins Wendland kommen — wegen den wenigen Arbeitsplätze. In Gorleben wird am Salzstock für das Atombrennstäbe- Endlager immer noch gebohrt. Im wehrhaft umzäunten Zwischenlager stehen die Kräne über den graugrünen Wellblechhallen. Ebenso im Ort, wo die Fördermittel gerade eine neue Sporthalle entstehen lassen. Nun meldete die örtliche 'Elbe-Jeetzel-Zeitung‘ Ende März, der Geldtopf der Gemeinde werde mit den Millionen der Atomfirmen gesponsort. Die Zahlungen, die es der Gemeinde im Gegensatz zu anderen gut gehen lassen, werden suspekt. Das Informationszentrum der Atomindustrie am Ortseingang lädt Besucher ein, ab und zu hat die Ortsverwaltung im Seiteneingang Sprechstunde. Hier rudern jeden Tag vom anderen Elb-Ufer acht Pendler über den Fluß, Nachtwächter im Zwischenlager. Die Bürgerinitiativen sind kleiner geworden und haben sich auf den Kampf gegen Ausbau und Verschmutzung der Elbe spezialisiert. Seit kurzem erlebt das Wendland eine weitere Wende-Folge. Jugendliche bekriegen sich in Dannenberg und den umliegenden Orten. Auslöser war eine Kontroverse zwischen Skinheads und Skateboard-Fahrern. Seitdem marschieren Neonazis auf, und die andere Seite, die Linken, die Liberalen, die Landfreaks und die Punks, macht ebenfalls mobil.

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