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Deutsche Zimmerschlacht

■ Martin Meltke gibt im Maxim Gorki Theater eine neue Antwort auf die alte Frage des (ewig) jungen Edward Albee: »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?«

Haben wir in diesen entscheidungsdurstigen Tagen für die Angst vor Virginia Woolf überhaupt Zeit? Gewiß, Geschlechterkampf ist ein übergreifendes Thema; überzeitlich und immerwährend. Und das Theater liebt nun einmal das unüberwindliche Paradox (und das Theater lieben alle, die über die unüberwindlichen Probleme dieser Welt vorzugsweise sinnieren und schwadronieren). Das Theater konserviert den Fortschritt bekanntlich im Warmhalten des Immerwährenden, des Niegelösten.

Doch selbst, wenn es den Theatermachern im besten Fall gelingt, das Ursprungshafte satirisch aktuell zu färben, in den Musentempeln geht es derzeit wohl vor allem deshalb so unergiebig zu, weil hier alles einfach zu eng, zu privatim, zu nichtssagend ästhetisch gerät. Und nun gibt es im Maxim Gorki Theater auch noch die alte Zimmerschlacht der sechziger und siebziger Jahre — Edward Albees abendfüllender Erstling Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, redselige Vorlage für eine geile Innenansicht der sozialen Keimzelle: die (amerikanische) Ehe als ätzende Notdurftgemeinschaft und die nach individuellem Gusto eingerichteten vier Wände als ekliger Austragungsort der innerbetrieblichen Ehespielchen um Dominanz, Frustration und Nächstenverachtung. Einst kongenial verkörpert vom identitätsstiftenden Schauspielerpaar Burton/ Taylor. Skepsis ist angesagt, und das premierenverpflichtete Publikum zeigte sich zunächst auch hörbar reserviert.

Daß das fetzende Seelengefecht dann über drei Stunden währte, ohne zu langweilen, ist zum einen der deutschen Neufassung von Alissa und Martin Walser zu danken, die den Text endlich von den überlebten Wendungen der ersten Übersetzung befreit. Zum anderen aber dem Stil und Rhythmus, den Regisseur Martin Meltke mit den Schauspielern erprobt hat und der sich aus den eher müden »Gesellschaftsspielen« des ersten Aktes zur überstürzten »Walpurgisnacht« des zweiten entwickelt, um schließlich im dritten Akt mit der »Austreibung« melancholisch-leise auszuklingen. Hier wird ernst gemacht mit dem Ansinnen, den Lebenslügen der Figuren bedingungslos und doch einsichtig das Kreuz vorzuhalten und gleichzeitig die Möglichkeiten dramaturgischer Spannung nicht zu vernachlässigen.

Die Schauspieler beginnen mit boulevardeskem, vom Alkohol genretypisch getrübtem Zungenschlag. Kreischend helles Gekicher und tief röhrendes Gelalle dringt ans Ohr, dann biegen die ersten beiden um die Ecke und wanken durch einen fast leeren, fischgrünen Raum auf die ausgemachten Fixpunkte zu: Martha versinkt, die Beine unterm Körper angewinkelt, in der Couchecke; hier wird sie fast den ganzen Abend residieren. An Anne-Else Paetzold, einem Gift und Galle spuckenden Vulkan, kann man noch die smaltalkgetränkte Aufgedrehtheit der eben abgelebten Party nachspüren. Ihre Art, das Lachen abbrechen zu lassen und das Böse ins nebensächliche Understatement zu packen, wird von ihr offensiv und damit auch ganz selbstverletzend betrieben. Eine seltene Mischung aus grobem Angriff und verwundbarer Sensibilität.

George, der zynische Geschichtsprofessor und gescheiterte Collegepräsident, steuert als erstes den Fernseher an, den er — die Antenne bis zum Bruch winkelnd — vergeblich in Gang zu setzen sucht. Hansjürgen Hürrig gibt als George zunächst nur abgespannte und röhrende Laute von sich; später wird er mit einer aus Unterdrückung geborenen Aufsässigkeit immer mehr whiskeygefüllte Gläser auf die Bühne schleppen und damit den allgemeinen Akoholkonsum materialisieren. Ein eher stiller Dulder, der auf seine Stunde wartet (die er bekommt).

Obwohl Martha mit eindeutigen Gesten und Sprüchen nicht spart, macht sie dem offensichtlich schon länger nicht mehr zum hausgemachten Sex aufgelegten Mann die Offenbarung, daß sie noch Gäste erwarten. Ein Vorspiel ohne Ende steht an, in deren Verlauf der illusorische Zusammenhalt der Beziehung geopfert wird: die hoffnungsvolle Behauptung von einem gemeinsamen Kind, das nie gezeugt werden konnte.

Diesen beiden zur Seite steht ein nicht minder mißratenes Ehegespann, das sich schnell aus dem argwöhnisch-belustigten Voyeurismus befreit und zu gleichberechtigten Partnern aufsteigt, die ebenfalls unter der lächelnden Vorhaut einen ganz üblen Seelenknochen versteckt halten.

Nick ist der humorlose Aufstreber, der noch den Beischlaf für eine Leistungsaufgabe hält. Jörg Schüttauf macht die Figur des frischgebackenen Biologiedozenten, der von Martha, der ältlichen Tochter des Collegepräsidenten verführt wird, zur ekligsten des Abends. Wie er die Unfähigkeit zur warmen Geste ausstellt, läßt es einem kalt den Rücken runterfahren. Solch lebensnahe Darstellung derer, denen nicht die Bescheidenheit, sondern die Gefühlsamputation die Bewegungen verkrampft, kann man auf der Bühne nur selten sehen. Seine Süße (früher hieß sie gut deutsch Putzi, im Original steht babe) spielt Gundula Köster als hysterisches Pummelchen, die gar nicht so hüftlos ist, wie ihr unterstellt wird, und in deren alkoholvernebeltem Blick viel mehr Wissen leuchtet, als ihr zugestanden wird. Ihrer Großspurigkeit nimmt man den reichen Vater ab, ihrer Handfestigkeit die hysterische Scheinschwangerschaft, die zur Heirat führte, allerdings schon weniger.

Mit diesem Quartett ausgezeichneter Schauspieler gelingt es, das Drama ausgetriebener Lebenslügen — diese »Scheußlichkeit, die fasziniert« (Friedrich Luft) — nicht nur von der ersten bis zur letzten Minute psychologisch spannend zu halten: in der betäubenden Stimmung anhaltender Illusionsvernichtung werden grundsätzliche Wahrheiten allegorisch personalisiert.

So gelingt ganz nebenbei — und doch zentral — eine Studie der aktuellen deutsch-deutschen Gefühlslage. Den einen ist die Illusion schon derart ins Fleisch gewachsen, daß sie zwar benannt, aber nicht mehr ausgetrieben werden kann (Nick hat seine Frau nur wegen des Geldes und der Scheinschwangerschaft geheiratet, die Süße aber sorgt heimlich dafür, daß sie nie Kinder zu kriegen braucht). Die anderen verabschieden sich gerade selbstmörderisch und bei vollem Bewußtsein von der liebgeworden, ja existentiellen Scheinwelt (George »tötet« das nicht existierende Kind, das das Objekt ihrer gemeinsamen Lebensspiele war). Unaufdringlich in die Psychologie der Figuren zurückgenommen, werden gesellschaftsrelevante Standpunkte an- und ausgeleuchtet.

Am Ende gehen Nick und seine Süße abgekämpft nach Hause. Illusionslos vereint sitzen die beiden Übriggebliebenen, denen man vom ersten Augenblick an ihre tiefe Verbundenheit nicht absprechen mochte, da und wissen um ihre Halt- und Zukunftslosigkeit (es sei denn, sie entschlössen sich zu einem Neuanfang).

Die Inszenierung trumpft an keiner Stelle künstlich auf, sucht nicht zwanghaft nach dem ästhetischen Overkill oder wie man nun um Gottes Willen wieder aus Menschengestalten eindimensional krakelende Schablonenprofile gewinnt. Mit spröder Reduktion, die in anderen Vorstellungen am Haus zu bieder riechendem Muff gerinnt, gelingt hier das Quentchen genialer Inspiration, das einen einsamen, um Einsamkeit kreisenden Abend schafft. Ganz privat und psychologisch — und doch ganz allgemein und allegorisch: Theater als ein Zeitdokument. Das ist rar und schon deshalb sehenswert. baal

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