: Mythos, Kitsch, Erbauung
■ Die Matthäus-Passion: Ein Tenor namens Marcello Viotti sang im Chor mit
Komm, süßes Kreuz,
so will ich sagen
mein Jesu
gib es immer her!
Wird mir mein Leiden
einst zu schwer
so hilfst du mir
es selber tragen
Der Katholik Marcello Viotti wollte dabei sein, wenn am höchsten protestantischen Feiertag die Matthäus-Passion im Bremer Dom gesungen wird. Zumal er ausgebildeter Sänger ist, freute sich Wolfgang Helbich über die Verstärkung des Tenors: Ohne viel Aufsehens stand Viotti in der Reihe der ChorsängerInnen.
Sicherlich ist es nicht nur die Freude an dem klassischen schönen Klang des Bach-Werkes, sondern eben auch der ihr unterlegte Text, die von ihr getragene Bedeutung, die auch den Bremer Dom am Karfreitag regelmäßig fast überfüllt sein läßt. Wohl die Hälfte der gut zweitausend ZuhörerInnen haben den Text auf den Knien, fast hat man den Eindruck, der Dirigent läßt kleine „Umbaupausen“, wo immer das Programmheft das verlangt.
Und dann drängen die Empfindungen aus der Konfirmandenzeit, und überzeugte AtheistInnen hören ergriffen die herrlichen Arien des „Welt, geh' aus, laß Jesum ein!“ oder: „Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nichts..“ Die oft kitschigen Formulierungen dieser Passionsgeschichte werden im Kleide der Bach'schen Musik zum hilfreichen Mythos, die wohlbekannten Klänge scheinen vielen Menschen zu helfen, für ein paar Stunden ihren religiösen Bedürfnissen freien Lauf zu lassen.
Auch da gibt es einen kulturellen Bruch zwischen Deutschland Ost und Deutschland West. Bei der diesjährigen Aufführung kam zum Bremer Domchor der Kinderchor der Singakademie aus Frankfurt/Oder hinzu, der sich scheinbar mühelos integrierte. In der ehemaligen DDR ist aber der Karfreitags-Brauch in das profane Leben nicht integriert, die Aufführung in Frankfurt/Oder am Gründonnerstag war aber bei weitem nicht so gut besucht wie die in Bremen.
Als SolistInnen hatte Wolfgng Helbich Stefanie Kopinits (Sopran), Mechthold Georg (Alt), Frieder Lang (Tenor), Ulrich Schütte und Philip Langshaw (Baß), für den leicht erkälteten Tenor wurde noch in der Nacht Manfred Equilutz in Wien aus dem Bett geklingelt, der den Part der Arien mühelos übernahm, ohne daß man als Zuhörer einen Bruch bemerkt hätte.
Alfred Heuß hat 1909 geschrieben, „viele Leute“ könnten sich Ostern nicht mehr ohne die Matthäus-Passion vorstellen, sie eigne sich aber nicht „als dienende Kunst im Sinne der Karfreitagserbauung“. Die bis vielleicht auf leichte Schwächen der Bremer Kammer-Sinfonie durch und durch gelungene, eindrucksvolle Aufführung war ein Beispiel dafür, daß „Karfreitagserbauung“ der „Kunst“ nicht entgegenstehen muß. K.W.
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