Auferstanden aus Ruinen?

Die Trümmer der Vergangenheit lasten auf Afrikas „zweiter Befreiung“  ■ VON WINRICH KÜHNE

Schwarzafrika ist Ende der 80er Jahre von einer „zweiten Welle der Befreiung“ ergriffen worden. Ziel der Befreiung ist nicht Kolonialismus, Imperialismus und Neo-Imperialismus — es sind die eigenen Herrschaftssysteme. Die Enttäuschung, ja Verbitterung über das Versagen und die Korrumpierung der Mehrzahl von ihnen ist groß. Das Scheitern der wirtschaftlichen Entwicklung lastet schwer auf der Masse der Bevölkerung.

In Schwarzafrika gibt es Anfang 1992 nur noch zwei Staaten, Sudan und Malawi, in denen ein Übergang zum Mehrparteiensystem nicht wenigstens zur Diskussion steht. Einige Herrscher, wie Mobutu in Zaire oder Moi in Kenia, sträuben sich zwar noch mit Händen und Füßen gegen diese Entwicklung. Und „Lebenszeitpräsident“ Hastings Kamuza Banda in Malawi hält die Opposition einstweilen noch mit Drohungen in Schach, daß sie im Falle ihrer Rückkehr „Fleisch für die Krokodile“ werden würde. Sie werden aber erfahren, daß Gorbatschows Ausspruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ auch in Afrika gilt.

Ausgehöhlte Regime

Die Ablösung alter, in ihrer Legitimität ausgehöhlter Regime ist zwar der spektakulärere, zweifellos aber auch der einfachere Teil dieses Demokratisierungsprozesses. Die Verwirklichung von Mehrparteiendemokratie ist in Staaten, die auf keine entsprechende Tradition zurückblicken können, die wirtschaftlich mehr oder weniger alle in einer miserablen Lage sind und die zugleich eine Vielzahl von Ethnien auf ihrem Territorium beherbergen, eine gigantische Aufgabe. In der Theorie ist das bekannt, in der Praxis wird das Politikern und Bevölkerung meistens erst im Zuge eines mühseligen Lernprozesses bewußt.

Denn bei der gegenwärtigen Krise in Afrika, mit der das Verlangen nach rechtsstaatlicher, parlamentarischer Demokratie so machtvoll in den Vordergrund gerückt ist, geht es um weit mehr als lediglich die Wahl zwischen Einparteienherrschaft und Mehrparteiensystem: Zusammengebrochen ist die Hoffnung auf eine „nachholende“ ökonomische Entwicklung; gescheitert ist der Staat als „Motor“ und „Agent“ dieser Entwicklung. Weltbank und IWF sprechen nicht umsonst von einer crisis of governance, mit der in den meisten afrikanischen Ländern eine tiefe Kise der civil society (Zivilgesellschaft) einhergeht. Der Erfolg des nation-building-Prozesses ist grundsätzich in Frage gestellt.

Dennoch besteht Hoffnung, daß in den nächsten Jahren bei der Demokratisierung Fortschritte gemacht werden. Sicher nicht in allen, wohl aber in einigen Ländern Afrikas. Denn dreierlei ist heute anders als Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, als fast alle afrikanischen Länder mit einer rechtsstaatlichen Mehrparteienverfassung in die Unabhängigkeit gingen.

Erstens haben die afrikanischen Eliten und die Bevölkerung eine konkrete Erfahrung, wohin Einparteiensysteme, die in den meisten Fällen auf die Herrschaft eines Führers oder einer kleinen Clique hinausliefen, führen. Zweitens hat der Zynismus außerafrikanischer Länder durch das Ende des Ost-West-Konflikts abgenommen. Der Druck, den westliche Regierungen nun auf alte Verbündete in Zaire und Kenia ausüben, ist dafür ein Beweis.

Drittens weiß man heute, daß die in der Entwicklungspolitik und -theorie der 60er und 70er Jahre so weit verbreitete Hoffnung, wirtschaftliche Entwicklung mit Hilfe sogenannter „Entwicklungsdiktaturen“ — sei es im Kleide sozialistisch orientierter Einparteiensysteme oder von Militärdiktaturen — schneller vorantreiben zu können, trügerisch ist. Entwicklungsdiktaturen haben nicht gerade bessere Bilanzen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Entwicklung vorzuweisen: Möglicherweise ist sogar das Gegenteil richtig.

Längerfristig verringert Demokratisierung in der Mehrzahl der Fälle den Abstand zwischen Reich und Arm und begünstigt die Eigeninitiative. Rechtsstaatlichkeit ist ein nicht nur für die Menschenrechte, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung wichtiger Faktor. Doch Demokratisierung, und das ist zweifellos eine ernüchternde Einsicht für die Oppositionsbewegungen in Afrika, ist per se ebenso wenig wie Diktatur eine Garantie für schnelle wirtschaftliche Entwicklung. Umgekehrt ist es falsch, wirtschaftlichen Wohlstand für eine zwingende Voraussetzung von Demokratisierung zu halten. Tatsächlich sind die meisten Demokratien auf der Welt unter politischen und/ oder wirtschaftlichen Krisenbedingungen entstanden. Demokratie ist kein Wohlstandsprodukt, sondern muß erkämpft werden. Eine andere Frage ist, inwieweit wirtschaftlicher Erfolg eine Bedingung für die Stabilität von etablierten Demokratien ist. Zwischen beiden Aspekten ist sauber zu unterscheiden.

Lautstarke Städter — stumme Bauern

Für den Erfolg der Demokratisierung in Afrika (ebenso wie für das östliche Europa und die Länder der ehemaligen Sowjetunion) wird eine grundlegende Einsicht wichtig sein: Die etablierten Demokratien in wirtschaftlich wohlhabenden Teilen der Welt können nur ganz allgemein, aber wenig im Detail, Vorbild für die Demokratisierung in wirtschaftlich schwachen Ländern sein.

Es wird allzu leicht vergessen, daß sich die westlichen Industrieländer aufgrund ihrer ökonomischen Ressourcen ein außerordentlich kompliziertes System von checks and balances und accountability, komplizierte parlamentarische und außerparlamentarische Informations- und Kontrollstrukturen sowie umfangreiche Einrichtungen der politischen Bildung zur Aufrechterhaltung ihrer Demokratien leisten können. Die Gesellschaften Afrikas und anderer Teile der Welt können all diese Voraussetzungen weder gegenwärtig noch in absehbarer Zeit erfüllen.

Fest steht jedoch, daß die städtischen Mittelklassen (Lehrer, Verwaltungsbeamte und andere staatliche Angestellte, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, Angehörige intellektueller Berufe, Studenten, Gewerbetreibende usw.) eine Schlüsselstellung haben. Es gibt hier ein Phänomen, daß ich das „Demokratisierungsdilemma der städtischen Mittelklassen“ nennen möchte. Einerseits sind ihre wirtschaftlichen Frustrationen der entscheidende Grund für die „zweite Welle der Befreiung“. Nicht gezahlte Gehälter, existenzbedrohende Versorgungsschwierigkeiten und so weiter treiben Angehörige der Mittelklassen massenweise in den Widerstand und auf die Straßen gegen die alten Regimes. Nach einer kurzen Phase der Euphorie über den Sturz des alten und die Etablierung eines demokratischen Regimes tritt jedoch genau das ein, was eintreten muß: Dieselbe Mittelklasse geht selbst bei beträchtlichen Zugeständnissen seitens des neuen Regimes wieder auf die Straße, weil sie sich weit mehr erwartet hat. In Benin ist genau das Ende 1991 passiert. Das Einkommensverbesserungspaket der Regierung wurde mit der Drohung, das ganze Land durch Streiks zum Stillstand zu bringen, vehement zurückgewiesen. Das Überleben der jungen Demokratie war konkret gefährdet.

Dieses Verhalten der Mittelklasse läßt sich aus dem sicheren Hafen des mitteleuropäischen Wohlstands natürlich leicht anprangern. Inwieweit kann man angesichts der harten Lebensbedingungen in den meisten Städten Afrikas von ihr aber überhaupt verlangen, daß sie die kurz- und mittelfristige Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse zugunsten des Überlebens demokratischer Regime zurückstellt? Realistischerweise muß in Afrika in den nächsten Jahren ähnliches erwartet werden wie im Lateinamerika der 60er bis 80er Jahre: ein Hin- und Herpendeln des Demokratisierungsprozesses zwischen populistisch-demokratischen und autoritär-diktatorischen Regimen.

Die Streitkräfte, insbeondere das Offizierskorps, sind ein Faktor, der diese Pendelbewegung nachhaltig verstärken wird. Militärputsche haben in Afrika eine reiche Tradition, und die Neigung zu ihnen wird durch den Demokratisierungsprozeß nicht geringer werden.

Die Masse der ländlichen Bevölkerung nimmt bisher am Demokratisierungsprozeß so gut wie nicht teil, obwohl die Unzufriedenheit über die vergangene Politik bei ihr häufig nicht geringer ist als bei der städtischen Mittelklasse. Es ist schwer vorstellbar, daß in Afrika auf die Dauer demokratische, frei gewählte Regime überleben können, die von einem so hohen Prozentsatz der Bevölkerung nicht mitgetragen werden. Denn anders als in Westeuropa, wo der Anteil der ländlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung im Durchschnitt lediglich sieben Prozent beträgt, liegt er in den meisten Ländern Afrikas zwischen 70 und 85Prozent.

Hat die ländliche Bevölkerung überhaupt ein Interesse an dem Aufbau einer pluralen, rechtsstaatlich- parlamentarischen Demokratie? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Der „urbane“ Charakter dieser Modelle läßt sich historisch nicht leugnen. Dennoch machen es sich die Mitglieder der Intelligenz, sei es innerhalb oder außerhalb Afrikas, zu leicht, wenn sie die „Bauern“ prinzipiell als demokratieunfähig abqualifizieren oder, wie in der Vergangenheit, zum Teil idealistisch von der egalitären Dorfgemeinschaftsdemokratie träumen. Die ländliche Bevölkerung ist nicht demokratieunfähig. Sie hat lediglich andere Interessen und ein anderes Verständnis von Demokratisierung. Entsprechend den in Afrika vor allem kleinbäuerlich und dörflich organisierten Produktionsbedingungen ist sie in erster Linie an lokalen und regionalen Fragen interessiert. Wichtig ist die nächste „Kreisstadt“ und weniger die Vorgänge in der weit entfernt liegenden Hauptstadt.

Die „große“ Demokratiediskussion, also die über Mehrparteiensystem, Rechtsstaatlichkeit und so weiter, die auf uns ebenso wie auf die Intelligenz in Afrika solche Faszination ausübt, geht an den realen Problmen der Mehrheit der Landbevölkerung vorbei, wenn sie nicht um die meistens ebenso wichtige Diskussion über local government, genauer local self-government, ergänzt wird. Denn gemeint ist hier nicht lediglich die vom Zentralstaat in begrenztem Umfang gnädigerweise zugestandene Dezentralisierung, wie sie bisher überwiegend gängig ist, sondern ein local government, bei dem Autonomie und Demokratisierung der lokalen Organe gleichgewichtige Elemente zur Demokratisierung des Zentralstaates sind. Vor allem in Nigeria, Äthiopien und Südafrika wird derzeit, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, intensiv über eine neue Balance zwischen zentraler und lokaler Macht nachgedacht.

Ethnische Vielfalt

Die Auffassung, daß sogenannte Stammeskonflikte eine Demokratisierung afrikanischer Länder völlig aussichtlos erscheinen lassen, ist weit verbreitet. Manche „Afrika- Kenner“ lieben es sogar, sich in diesem Sinne als besonders harte Realisten darzustellen. Zweifellos werden ethnische Konflikte ein Hauptproblem des Demokratisierungsprozesses in Afrika bleiben — nicht zuletzt wegen der geringen Hoffnung auf eine schnelle Besserung der wirtschaftlichen Lage. Einige Länder werden durch diese Zuspitzung in einen Strudel interner oder gar zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen hineingerissen werden, an deren Schluß dann ähnlich wie in Äthiopien, in Somalia oder im Sudan (aber auch in Jugoslawien und weiteren Ländern im östlichen Europa) nur noch der Zerfall und die Aufteilung in neue Staatsgebiete als einzige Möglichkeit der Befriedigung bleiben.

Aus diesen Gefahren jedoch eine generelle Demokratieunfähigkeit von Vielvölkerstaaten abzuleiten, ist irrig. Die Demokratisierung in Europa ist selbst ein Beispiel dafür, daß Mehrparteiensysteme und ethnische Vielfalt nicht per se unvereinbar sind. Dafür ist allerdings notwenig, daß Demokratie nicht einseitig als Mehrheitsherrschaft, und damit im Extremfall als Mehrheitsdiktatur, gesehen wird, sondern gleichzeitig auch als pragmatisches Modell zur Regulierung von Konflikten zwischen Gruppen und deren Eliten.

Mehrheitsherrschaft bedarf also des Schutzes gegen Willkür. Ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit und Garantie von grundlegenden Menschen- und Minderheitenrechten ist erforderlich. Erinnern wir uns daran, daß Einparteienherrschaft und Militärdiktaturen sich ebenfalls nicht als erfolgreiche Wege zur Beseitigung von ethnischen Konflikten erwiesen haben, auch wenn Präsident Arap Moi in Kenia immer noch versucht, die Welt etwas anderes glauben zu machen. In Namibia, Angola und Äthiopien, im Prinzip auch in Südafrika und in Mosambik, sind freie, faire und international überwachte Wahlen in einem Mehrparteiensystem sogar zur einzigen für alle Gruppen akzeptablen Formel geworden, um jahrzehntelange Bürgerkriege zu beenden. Gelingt dieser Versöhnungsprozeß nicht, dann kann Afrika seine wirtschaftliche Entwicklung vergessen, ähnlich wie weite Teile des südöstlichen Europas und der ehemaligen Sowjetunion. Krieg wird verschiedene Regionen des Kontinents verwüsten. Somalia, aber auch der Sudan und Liberia, sind warnende Beispiele.

Demokratie als Versöhnungsprozeß

Demokratisierung und Autonomie des local government sind für diesen Versöhnungsprozeß entscheidende Stichworte. Dennoch: selbst wenn in diesem Sinne vorgegangen wird, dürfte es angesichts der schlechten wirtschaftlichen Perspektive schwierig sein, plurale Demokratie und ethnischen Frieden rein national zu verwirklichen. Hilfestellung von außen wird notwendig sein.

International abgesicherte Mindestgarantien für Minderheiten können einen Beitrag leisten, auch wenn sie wegen des Eingriffs in die internen Angelegenheiten der betreffenden Staaten außerordentlich kontrovers sind. Afrika hat mit seiner Vielfalt von ethnischen Problemen — dramatisch verschärft durch die willkürlichen kolonialen Grenzziehungen — ein überragendes Interesse an der Ausgestaltung internationaler und regionaler Regime des Minderheitenschutzes mitzuarbeiten, sei es unter dem Dach der UNO oder der OAU. Eine zunehmende Zahl führender Afrikaner, wie zum Beispiel der ehemalige nigerianische Staatschef General Obasanjo vom Africa Leadership Forum, haben sich bereits an diese Aufgabe gemacht.

Stabilisierend würde sich auch der Ausbau des Systems internationaler Wahlbeobachter unter dem Dach der UNO auswirken. Die grundsätzliche Bedeutung dieses Punktes für eine friedliche Entwicklung wird bei uns immer noch unterschätzt, obwohl die entscheidende Rolle internationaler Wahlbeobachterteams für einen friedlichen demokratischen Machtwechsel bei den Wahlen in Nicaragua, Namibia, Haiti, Benin und Sambia eindeutig war. Ohne ihre Anwesenheit wäre es möglicherweise zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen über die Anerkennung des Wahlergebnisses gekommen.

Nun ist es an der Zeit, einen Schritt weiterzugehen und über denmehrmaligen, vielleicht sogar permanenten Einsatz von Wahlbeobachtern nachzudenken. Denn es wird den meisten afrikanischen Ländern noch lange Zeit an den internen Strukturen fehlen, um den Wählern und der (unterlegenen) Opposition ein ausreichendes Vertrauen in faire und freie Wahlen zu geben. Die Befürchtung, daß die ersten freien Wahlen zugleich auch die letzten sein werden, ist nach wie vor groß. Ein internationales Wahlbeobachtersystem dagegen dürfte sowohl bei den Menschen im Lande als auch international das Vertrauen in den Demokratisierungsprozeß stärken.

Dr.Winrich Kühne ist Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen.