KOMMENTAR: Abschied vom Ritual?
■ Kreuzberg hat die Chance für einen friedlichen 1. Mai
Fünf Jahre nach dem legendären Bolle-Brand scheint sich das Randale-Ritual in Kreuzberg überholt zu haben. Die am Montag zu »Führers Geburtstag« von Polizei und Szene erwarteten Krawalle blieben aus, bei einem intelligenteren Einsatz der Polizei wären selbst die Schaufensterscheiben unversehrt geblieben. Statt dessen demonstrierte die Szene mit einer friedlichen Demo Stärke gegen Rechts und lockte dabei fast ebenso viele Leute aus den Wohnzimmern wie der Ostermarsch.
Daß sich die Rechtsextremen am 20. April zurückhielten, kann nicht verwundern. Die Wahlerfolge von »Republikanern« und DVU sowie die neuesten Umfragen in Berlin gaben ihnen andere Impulse zum Feiern. Angesichts der Stimmungslage in der Bevölkerung haben militante Rechtsgruppen erkannt, daß ein Überfall auf ein Flüchtlingsheim ihnen zur Zeit mehr schaden als nützen kann. Politisches Kapital läßt sich eher mit dem Hinweis auf linke Chaoten erzielen.
Die Einsicht, daß Randale einen Rechtsruck geradezu provoziert, scheint sich auch in der Kreuzberger Szene durchzusetzen. So waren einerseits unter den Randalierern vom Montag fast nur türkische Jungs, die im letzten Jahr für den Steinwurf noch zu jung waren. Andererseits kündigte die autonome Szene an, sich bei den diesjährigen »revolutionären« 1.-Mai-Aktivitäten auf die politischen Inhalte zu konzentrieren.
Zum ersten Mal seit fünf Jahren könnte Kreuzberg damit vor einem friedlichen 1. Mai stehen. Die Chance, auch wieder ein engagiertes Fest aufzubauen, sollten Stadtteilprojekte nutzen; neben den steigenden Gewerbemieten gibt es der Probleme im Kiez genug. Die Straßen den pubertierenden Kids zu überlassen wäre fatal. Jedes Auto, das sie am 1. Mai gedankenlos in Flammen setzen, treibt den Rechtsextremen nicht nur Stimmen zu, sondern zerstört auch den wackeligen Versuch, in Kreuzberg zu einer politischen Kultur zurückzukehren. Micha Schulze
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