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Zeitopfer

■ Die Zeitnotprofiteure Kasparow und Iwantschuk führen beim Schach-Weltklasseturnier in Dortmund

„Wie kann man nur fünf Stunden vor dem Schachbrett sitzen?“ lautet die landläufige Reaktion, wenn Nicht-Schach-Besessene hören, wie lange eine Turnierpartie gewöhnlich dauert. Doch die üblichen drei Minuten Bedenkzeit pro Zug — meist bemessen in zwei Stunden pro Spieler für die ersten 40 Züge und je einer Stunde für jeweils folgende 20 Züge — sind nach dem Geschmack so manches Turnierspielers noch zu wenig. Vizeweltmeister Anatoli Karpow trauert den früheren zweieinhalb Stunden für die ersten 40 Züge nach und bejammert das fallende Niveau seit der Verkürzung.

Nicht wenige Großmeister haben für ihre letzten zehn Züge nur noch wenige Minuten oder gar Bruchteile davon auf ihrer Uhr. Ausnahmen wie Vischwanathan Anand sind selten. Die meisten groben Fehlzüge geschehen natürlich bei knapper Bedenkzeit. Anand macht auch dabei eine Ausnahme: In der zweiten Runde des Dortmunder Turniers stellte er gegen Weltmeister Garri Kasparow nach sechzehn Zügen eine glatte Figur ein und mußte sich sofort geschlagen geben.

Aber Vishi, wie er im Kollegenkreis genannt wird, war an jenem Samstag ohnehin nur ein Schatten seiner selbst. Nach einem ungewöhnlichen Eröffnungszug der Nummer eins hatte er schon 20 Minuten gegrübelt. Das sei seine persönliche Höchstleistung, wurde im Expertenkreis gemunkelt.

Wie nahe Gedeih und Verderb in der Zeitnotphase beieinanderliegen, zeigte die Auftakt-Partie zwischen dem Engländer Michael Adams und Doc Robert Hübner. Das Fallbeil der Schachuhr haftete noch um Haaresbreite am Uhrzeiger, als Adams zwischen zwei Bauernzügen die quälende Wahl hatte. Um nicht durch Zeitüberschreitung zu verlieren, griff sich der 20jährige Londoner den Erstbesten und fand sich wenige Züge später im Mattnetz des einzigen deutschen Teilnehmers. Der andere Bauernzug hätte dagegen Hübner die Verluststellung angehängt. Als der Kontrollzug ausgeführt war, holte sich Adams noch seinen persönlichen Kick, als er die zwei verbleibenden Sekunden zählte, die ihn vor dem moralisch höher geschätzten Verlust nach Zeit bewahrt hatten. Für die Idealisten, die vor allem die besten Züge im Sinn haben, wiegt eine in Zeitnot weggeworfene Partie denn auch nur halb so schwer.

Jeroen Piket, der seine Stellung in der vierten Runde gegen Kasparow lange im Lot gehalten hatte, überschritt das Limit im schlimmsten Moment. Seine rechte Hand war nach dem 40. Zug auf dem halben Weg zur Uhr, als der Schiedsrichter reklamierte: Klappe unten, Affe tot. Damit zog König Garri mit dem Ukrainer Wassili Iwantschuk gleich, der zwei Runden früher demonstriert hatte, daß nicht immer der Zeitnotspieler der Gelackmeierte sein muß: Der Weltranglistendritte lag gegen den 17jährigen Gata Kamski nicht nur um einige Minuten auf der Uhr, sondern auch noch um ein Bäuerchen auf dem Brett hinten. Als sich der Nebel nach eifrigem Zocken verzog, besaß Iwantschuk eine Mehrfigur.

Tags darauf schlug Gata den großen Garri. Der Eröffnungsweltmeister hatte aber nicht etwa in Zeitnot danebengegriffen. Ausgerechnet in einer Variante, die er 19 Züge weit schon mehrfach gegen andere Großmeister gewonnen hatte, veropferte sich Kasparow. Als er unter ständigem Kopfschütteln rund 50 Minuten für den längsten Dortmunder Zug investierte, war es schon zu spät. Der befürchtete Kasparow-Durchmarsch war abgewehrt. Alles spricht für ein Duell um den Turniersieg zwischen König Garri und seinem Kronprinzen Iwantschuk, die vor der direkten Begegnung je drei Punkte aus vier Partien haben. Stefan Löffler

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