: Nie Hits, nur Hymnen
■ John Cale machte wieder Station in Berlin. Diesmal in Huxley's Neuer Welt
Es begab sich zu der Zeit, als ich meine ersten Bay-City-Rollers- und Sweet-Platten kaufte, daß die juvenile Welt gespalten war in zwei feindliche Lager. Da gab es auf der einen Seite die Beatles-Fans, auf der anderen die Anhänger der Rolling Stones. Meistens schon etwas älter und auch weit geringer an Zahl war eine dritte Gruppe. Sie kleideten sich oft vollständig in Schwarz, hatten die Altkleidersammlungen nach Rollkragenpullovern durchforstet, lasen Sartre und Camus und hörten Velvet Underground.
Wie alle Existentialisten neigte auch diese Rock'n‘Roll-Abart zum Sektierertum, und so entstand schon sehr bald nachdem sich die Band aufgelöst hatte, eine Gruppe, die sich jedes weitere Lou-Reed-Soloalbum zulegte, so schlecht es auch sein mochte. Die andere Fraktion war der Meinung, daß Reed zwar ein ganz passabler Rocker sei, aber die Außergewöhnlichkeit der Velvet sich vornehmlich auf den Genius von John Cale stützte. Die letzteren waren in der Minderzahl. Ich gehörte, nachdem ich die Bay City Rollers überwunden hatte, zu ihnen.
Wir kauften uns zwar nicht jedes Cale-Album, aber wir verfolgten mit Argusaugen jede seiner Bewegungen; und durften dabei feststellen, daß Cale nichts Falsches tat. Während Reed vielleicht der bessere Songschreiber war, auf jeden Fall jederzeit einen Hit schreiben konnte, dümpelten Cales Platten weiterhin bei bescheidenen Verkaufszahlen vor sich hin — weil er sich treu blieb. Und das hieß, alles zu spielen, was ihm Spaß machte. Es konnte passieren, daß er ein Pop-Album aufnahm, daß er mit einer Comic-Punkband auf Tour ging oder einfach am Klavier vor sich hinklimperte. Nie konnte man vorher wissen, was Cale tun würde, aber immer wußte man, daß er er selbst blieb. Bei Reed wußte man nur, daß er das blieb, für das ihn alle hielten: der Großstadt-Rocker aus New York. Cales Platten waren alle unterschiedlich, aber immer gut. Reeds Platten waren alle gleich, aber oft schlecht.
So gingen die Jahre ins Land. Cale wurde älter, wir wurden nicht jünger, aber sonst blieb alles beim Alten. Reed kommt alle drei, vier Jahre nach Deutschland, um in Hamburg vor ausgewähltem Publikum zu demonstrieren, daß er die Posen nicht verlernt hat. Cale kommt in schöner Regelmäßigkeit alle Jahre wieder auf eine Tour, die mittelgroße Hallen mal mehr, mal weniger füllt. Diesmal eher weniger.
Cale sitzt in einem komisch schlabbrigen, aber trotzdem steifen und ernsthaften schwarzen Anzug hinter dem Flügel und singt seine Lieder. Das ist es dann schon, das ist schön. Zwar hat er Musik studiert, aber trotzdem weigert er sich beharrlich, etwas anderes als sein Stakkato zu spielen. Die Akkorde sind hart angeschlagen, aber perlen doch, sinken tief, wenn man sie läßt und nicht gerade der Nachbar einen Plastikbecher zu Boden wirft. Er hat nie Hits geschrieben, nur Hymnen. Der Unterschied ist ganz einfach: Bei Hits schreit das Publikum unisono nach dem ersten Takt auf und ist bei den sonstigen Stücken still bis zum Ende. Bei den Hymnen schreien immer nur Vereinzelte aus dem Auditorium, weil dieser Song etwas ganz Spezielles für sie bedeutet. In der Neuen Welt schreien bei jedem Stück zwei oder drei.
Nur bei Heartbreak Hotel schreit keiner. Da wäre ich dran gewesen. Zwar hat Elvis Presley, Gott hab ihn selig, dieses Lied geschrieben, aber Cale hat es längst zu seinem gemacht. Es gehört wie kein anderes, noch vor jeder Eigenkomposition, zum Repertoire eines jeden Cale-Konzertes, weil es in wenigen klaren Worten, mit einer schlichten Melodie die ganze Verlassenheit, die ein Mensch empfinden kann, darstellt. »I feel so lonely, I could die.«
Wahrscheinlich gehe ich immer wieder nur wegen dieses einen Stücks auf Konzerte von John Cale. Den Rest des Gigs könnte er meinetwegen mit Kompositionen des Dream Syndicates bestreiten. Für Nichteingeweihte: Das Dream Syndicate war ein Projekt des modernen Komponisten La Monte Young, bei dem Cale Mitte der sechziger Jahre mitwirkte. Dort mußten er und die anderen Gruppenmitglieder über Stunden denselben Summton halten oder Pflanzen so lange anschreien, bis sie eingingen [Wer jetzt? d. säzzer].
Sicherlich ist Cale eine Legende, wegen solcher und anderer Geschichten. Aber er kultiviert seine Legende nicht und erhebt sie nicht zur Pose. Über all die Jahre blieb er immer wendig genug, machte mit bei der Velvet-Underground-Reunion zu Ehren von Warhol, machte eine Platte mit Reed und hielt sich darauf zurück, vielleicht weil Reeds Ego ein anderes Verhalten nicht verkraftet hätte. Songs For Drella war dann die beste Reed-Platte, die der nie allein zustande bekommen hätte. Deshalb sitzt da auch nur einfach Cale auf der Bühne, spielt Klavier und Gitarre und singt. Alles tut er nicht sonderlich virtuos, aber man weiß immer, daß er auch anders könnte. Seine Ansagen sind kurz, aber einmal erzählt er dann doch eine Geschichte: über den Song Cordoba. Ihm und Brian Eno wollten nicht so recht Texte einfallen, also suchten sie nach Büchern, aus denen sie Zeilen klauen konnten. Aus der 45. Übung eines Übersetzungslehrbuches Spanisch-Englisch entstand dann Cordoba. Vielleicht nimmt Reed ja das New Yorker Telefonbuch? Thomas Winkler
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