GASTKOMMENTAR: Wertesalat — unverdaulich?
■ Zu einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bremen
Eine vierzehnjährige Türkin, deren Eltern strenggläubige Muslime sind, darf nicht zusammen mit Jungen am Sportunterricht teilnehmen — der Kodex des Islam erlaubt es ihr nicht. Den Muslimen ist die Freizügigkeit der Geschlechter im Umgang miteinander, wie sie in westlichen Gesellschaften praktiziert wird, ein Dorn im Auge. Die Reize des Körpers, vor allem des weiblichen, müssen verhüllt werden. Ehrt es die Frau, daß damit praktisch ihr ganzer Körper und ihre Haare gemeint sind? Oder wird sie dadurch zu einer Art unberührbarer Person, die die Hauptlast der angestrebten gesellschaftlichen Keuschheit tragen muß?
Das Oberverwaltungsgericht in Bremen hat nun entschieden, daß die muslimische Schülerin einen Anspruch darauf hat, vom Unterricht befreit zu werden. Religionsfreiheit geht vor, zumal wir heute in einer „multikulturellen“, „wertpluralistischen“ Gesellschaft leben, wie es in der Urteilsbegründung heißt. Wann, so fragt man sich, ist es soweit, daß muslimische Mädchen von der Teilnahme an „gemischten“ Klassenfahrten „befreit“, wann schließlich wird die Koedukation an sich von muslimischen Eltern als untragbar betrachtet werden?
Urteile wie das aus Bremen nehmen das Problem einfacher, als es ist. Der Wertesalat, der vom Gericht als „Wertepluralismus“ bezeichnet wird, kann kaum durch Rechtsnormen und Vorschriften verarbeitet werden. Hinter dem Schlagwort „Multikulturalität“ stehen oft Lebensvorstellungen, die einfach unvereinbar sind und die die Toleranzgrenzen bei allen Betroffenen bis aufs äußerste reizen. Wie gewöhnt man sich an das Ungewöhnliche? Für Minderheiten ist das die Kardinalfrage ihrer Existenz. Oft ist weder die Mehrheit in der Gesellschaft noch die Minderheit dazu bereit. Konflikte sind damit vorprogrammiert. Ihre Bewältigung bedarf großer kultureller Anstrengung und der Neugier auf die Denk- und Lebensweise des jeweils „anderen“. Und die ist außer in einigen für diesen Zweck präparierten Nischen nirgendwo in Sicht.
Kann und soll man sich also darüber freuen, daß ein deutsches Gericht sich bei seinem Urteil von den Prinzipien der Multikulturalität und der Toleranz leiten läßt? Zafer Senocak
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen