: Turnen mit Kopftuch und ohne Buben
Türkisches Mädchen von gemischtem Sportunterricht befreit/ Ihr Vater verwies auf Keuschheitsgebot des Korans/ Bremer Gericht: Deutschland wird zur multikulturellen Gesellschaft ■ Aus Bremen Dirk Asendorpf
Mädchen dürfen nicht gezwungen werden, am gemeinsamen Sportunterricht mit Jungen teilzunehmen. Mit dieser Entscheidung gab das Bremer Oberverwaltungsgericht jetzt in zweiter Instanz einer strenggläubigen moslemischen Familie Recht. Ausdrücklich beriefen sich die Richter dabei auf die Entwicklung Deutschlands zur „multikulturellen Gesellschaft“, der auch die Schule Rechnung tragen müsse.
Die Bremer Schulbehörde hatte allerdings auch auf die „multikulturelle Gesellschaft“ verwiesen, als sie vor Gericht den Zwang zum koedukativen Sportunterricht verteidigte. Jugendliche der 10. Jahrgangsstufe seien „überfordert, die multikulturell bedingte Einräumung von Sonderrechten zu verstehen“, erklärte die Behörde. „Ausgrenzung, Aggression und eine generalisierende Form von Ausländerfeindlichkeit“ könnten die Folge sein.
Aise A., die 14jährige Bremer Türkin kam in der Verhandlung nicht zu Wort. Ihr Vater hatte im September 1990 beantragt, Aise vom gemischt-geschlechtlichen Sportunterricht der Bremer Realschule zu befreien. Er berief sich dabei auf das Keuschheitsgebot des Korans. Zur sachkundigen Unterstützung des Vaters war der Imam einer Bremer Moschee bei der Gerichtsverhandlung anwesend.
Ausdrücklich wies das Bremer Gericht in seinem Urteil darauf hin, daß das Grundgesetz „Glaubensfreiheit nicht nur den Mitgliedern anerkannter christlich-abendländischer Kirchen und Religionsgemeinschaften“ gewähre, sondern „auch anderen Äußerungen des religiösen Lebens, jedenfalls soweit sie sich im Rahmen übereinstimmender sittlicher Grundhaltungen der heutigen Kulturvölker“ hielten. Dabei sei selbst die „ungestörte Entfaltung der Persönlichkeit von Außenseitern und Sektierern“ gestattet. „Keine Bedeutung“ habe in diesem Zusammenhang, „daß heranwachsende moslemische Frauen durch die Forderungen ihres Glaubens behindert werden, in der westlichen Gesellschaft eine gleichberechtigte Stellung als Frau zu erlangen“.
Im übrigen, so die Bremer Richter, sei der koedukative Sportunterricht „auch für Mädchen, die die Glaubenshaltung von Aise A. nicht teilen, oft unangenehm“, da Berührungen durch Jungen von allen Mädchen „mitunter als roh oder gar entwürdigend“ empfunden würden. Gerade deshalb sei nachvollziehbar, daß Aise A. den Sportunterricht als unzumutbaren Konflikt erlebe. Wegen der „grundsätzlichen Bedeutung“ und der unterschiedlichen Positionen verschiedener Oberverwaltungsgerichte in dieser Frage ließ das Bremer Gericht die Revision beim Berliner Bundesverwaltungsgericht zu.(Az.: OVG 1 BA 17/91)
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